Plinio Martini: "Nicht Anfang und nicht Ende"
Roman einer Rückkehr
Plinio Martini wurde 1923 in Cavergno
im Maggiatal geboren. Seinen Heimattälern im Tessin immer verbunden, arbeitete
er als einfacher Volksschullehrer in Cavergno und Cervio. Schon früh
veröffentlichte er Gedichte. Plinio Martini starb am 6. August 1979.
Das
vorliegende Buch "Nicht Anfang und nicht Ende" ist sein erster Roman, der 2005
von der Editione Casagrande in Bellinzona wiederaufgelegt wurde und mit der
Übersetzung von Trude Fein durch den Limmat Verlag nun einem deutschsprachigen
Publikum zugänglich gemacht wird.
Dieses außergewöhnliche Buch über das
Tessin vor dem Zweiten Weltkrieg zu lesen gleicht einer überraschenden
Entdeckungsreise in ein Land, das dem Rezensenten bisher nur als Urlaubs- und
Zweitwohntort der Reichen ein Begriff war; ein Ort, an dem oft die Sonne scheint
und wo es gutes, ja hervorragendes Essen und sensationelle Weine gibt. Und es
ist eine Entdeckungsreise durch das Leben der Bewohner der Täler, der Bergler,
denen ihre Tiere und Almen kaum zum Leben reichen und zum Sterben zu viel
sind.
Die Geschichte von Gori, die Plinio Martini erzählt, ist in den
1920er Jahren mitten in der großen Weltwirtschaftkrise im Tessin wohl tausend
Mal geschehen. Der Hunger, die Armut und die Allgegenwart des Todes treiben Gori
zur Auswanderung nach Amerika, wo ihn aber auch nur ein tristes Leben als
Kuhhirt auf einer Farm weitab aller Zivilisation erwartet. Keine Rede vom
schnellen Reichtum, keine Rede von der triumphalen Heimkehr ins Tal als
gemachter Mann.
Dabei hätte es Gori selbst im armen Maggiatal gut haben
können. Maddalena, Tochter einer gutsituierten Familie, verliebte sich schon in
frühen Jugendtagen in ihn. Doch als sie beide soweit sind, einander nach Jahren
vorsichtigen Sich-Beriechens und sanften Werbens ihre Liebe zu gestehen und
Maddalena ihm ernsthaft klarmacht, dass sie ihn heiraten und eine Familie mit
ihm haben möchte, ist sein Antrag auf Einwanderung in die USA schon unterwegs zu
den Ämtern. Da er nicht der Einzige aus dem Tal ist, der beschlossen hat, sein
Glück in Übersee zu versuchen, kann auch der deutliche Hinweis Maddalenas, dass
er als ihr Mann ausgesorgt hätte, in der Firma ihres Vaters langsam in dessen
Rolle hineinwachsen könne, seinen Stolz und seine Ehre nicht mehr überzeugen.
Gegen seine tiefe Liebe entscheidet er sich, zu gehen. Er wird diese
Entscheidung sein Leben lang bereuen und betrauern, und schon einige Wochen nach
seiner ernüchternden
Ankunft in der Neuen Welt beginnt sich seine Seele zu verdüstern, als er die
Nachricht vom plötzlichen und überraschenden Tod Maddalenas
erhält.
Plinio Martini lässt seinen Gori im Rückblick erzählen, als er
nämlich zwanzig Jahre später, 1949, krank vor Heimweh aus dem fernen Kalifornien
in sein geliebtes Tal zurückkehrt.
Bei seiner Rückkehr ist nicht nur Gori
verändert, sondern alles, was er von früher kennt; es ist vorbei oder
verschwunden. Seine Mutter ist behindert, sein Vater alt und zerbrechlich, und
selbst seine geliebten Berge scheinen ihn niederzudrücken. Zwar ist er nach
insgesamt zwanzig Jahren in der Fremde zu bescheidenem Wohlstand gekommen, doch
mit jedem neuen Tag in der alten Heimat, mit jeder Begegnung mit der Geschichte
der Toten, mit jedem erinnernden Gespräch mit noch lebenden Freunden oder
Bekannten wird schmerzhaft deutlich: Er hat sein Glück geopfert, und dieses
Opfer begann mit seiner Weigerung, Maddalenas Bitte zu folgen und die Bewerbung
um die Auswanderung zurückzunehmen.
"Nicht Anfang und nicht Ende" ist ein
trauriger und leidenschaftlicher Roman. Ein Buch eines Autors, der völlig zu
Unrecht über Jahrzehnte unbeachtet blieb und somit ein ähnliches Schicksal
erlitt wie die Menschen, über die er schrieb und wie das Land, das er liebte und
an dem er litt.
Der Roman wirkt wie ein einziger Wutschrei und ich stelle mir
vor, wie Plinio Martini all die leidvollen Erfahrungen und Begegnungen mit den
Menschen seiner Heimat, die er über lange Jahre als Volksschullehrer machte, in
seinem ersten Roman verdichtete und zum Ausdruck brachte.
(Winfried Stanzick; 04/2006)
Plinio Martini: "Nicht Anfang und nicht
Ende"
(Originaltitel "Il fondo del sacco")
Aus dem Italienischen von
Trude Fein.
Limmat Verlag, 2006. 240 Seiten.
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Ein weiteres Buch des
Autors:
"Fest in Rima. Geschichten und Geschichtliches aus den Tessiner
Tälern"
Plinio Martini war ein genauer Kenner der Tessiner Geschichte,
des Volksaberglaubens und der Institution der Kirche im Leben der Täler.
In
der vorliegenden Sammlung mit seinen historischen und volkskundlichen Texten
setzt er sich mit dem Tessin seiner Vorfahren auseinander. Er schildert das
elende Leben, das die armen Bauern des Maggiatales in die
Emigration nach
Australien getrieben hat, und er polemisiert vor allem gegen das Bild eines
pittoresken und folkloristischen Tessins. (Limmat Verlag)
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