Guillermo Martínez: "Die Pythagoras-Morde"
Romangeflecht mathematischer
Paradoxa und kriminalistischer Logik
"Ein argentinischer
Mathematikstudent bekommt ein Stipendium an der Universität Oxford und wird dort
Zeuge einer Reihe von Morden, die einem logischen Muster zu folgen
scheinen", fasst der Klappentext die Ausgangsposition des Romans zusammen.
Der junge Mann aus Buenos Aires macht in der englischen Geistesmetropole die
Bekanntschaft eines gewissen Arthur Seldom, mit dem er versucht, der
Verbrechensserie auf die Spur zu kommen. Seldom ist nicht irgendwer, sondern
einer der herausragendsten Mathematiker seiner Zeit, eine Koryphäe
sondergleichen, dem unter der Studentenschaft Kultstatus zukommt.
Erstes
Mordopfer wird die betagte, an den Rollstuhl gefesselte Wohnungsvermieterin des
Argentiniers, die dazu noch an Krebs gelitten hatte. Als Hinweis lässt der Täter
den Ermittlern ein Kreissymbol zufallen. Opfer Nummer zwei wird ein unheilbar
kranker Professor, der in einer Spitalabteilung - bekannt als "Aquarium" -
dahinsiechte. Das zu ihm korrelierende Symbol ist fischähnlich. Als Dritter
kommt ein steinalter Musiker während einer Orchesteraufführung zu Tode. Das
Zeichen für ihn: eine Triangel. Der vielleicht Aufsehen erregendste Mord ist
jener an zehn geistig behinderten Kindern, deren Schulbus bewusst in den Tod
gelenkt wird. Dazu passt die Tetraktys, eine Pyramide aus zehn Punkten. Tötet
der Mörder ohnehin Todgeweihte? Steckt "Eugenik" als Motiv dahinter? Oder doch
Persönliches?
Warum "Pythagoras-Morde"? Was hat das alles mit dem
gleichnamigen antiken Mathematiker zu tun? Nun, der gelehrte Mann hatte in
Kroton, auf Sizilien (das im 6. Jh. v. Chr. griechische Kolonie war), eine
Anhängerschar um sich gesammelt; einen eingeschworenen Bund, dessen Angehörige
als ein Mittelding zwischen Magier und Naturwissenschafter lehrten. Bis heute
ist die Zahlenmystik und Geometriesymbolik der Pythagoräer erhalten geblieben.
Der Kreis steht für die Eins, den Ursprung, das Perfekte, das Göttliche. Die
Zwei hingegen wird durch das Überschneiden zweier Kreisbahnen dargestellt, als
Dualität, Polarität, Abspaltung. Inmitten der Kreisbahnen entsteht ein
elliptisches Gebilde, auch "Fischblase" bezeichnet. Die Triade wiederum gilt als
die Verbindung zweier Extreme; "die Möglichkeit, den Gegensätzen Harmonie und
Ordnung zu verleihen". Geht der Mörder von Oxford anhand einer simplen
symbolischen Reihe von 1,2,3, etc. vor? Gehört er einem Geheimbund an? Oder ist
alles nur ein gründlich geplantes Ablenkungsmanöver? Die Antwort kommt erst mit
der letzten Tat, dem Zehnfachmord; denn auf das Drei- folgt nicht etwa ein
Viereck, sondern eine Pyramide aus zehn Punkten. Zehn ist die Summe aus eins
plus zwei plus drei plus vier, sozusagen das Allesvereinende, die heilige Figur
der alten griechischen Sekte.
Der argentinische Studioso wird von seinem britischen Mentor langsam an des
Rätsels Lösung herangeführt. Wobei dazwischen immer wieder Exkurse in die theoretische
Mathematik unternommen werden. Etwa zum Genius Kurt Gödel (1906-1978), der 1930
sein berühmtes Theorem, den Gödelschen Unvollständigkeitssatz, formulierte.
Er hatte, populärwissenschaftlich ausgedrückt, bewiesen, dass in der Mathematik
nicht alles beweisbar ist. Demzufolge heißt das, arithmetische Systeme sind
entweder in sich widersprüchlich oder aber unvollständig. Damit schließt Guillermo
Martínez den Bogen von der naturwissenschaftlichen zur kriminalistischen Logik.
Widersprüche und Unvollständigkeiten gilt es auch in den "Pythagoras-Morden"
mit probaten Lösungsansätzen anzugehen. Dabei bedient sich der Autor eines spätscholastischen
Philosophen, William Occam (um 1285-1349/50). Das später nach ihm benannte "Ockham
Rasiermesser" oder "Sparsamkeitsprinzip" besagt, dass von mehreren äquivalenten
Theorien die einfachste die beste ist. In anderen Worten: Wenn nach einem Unwetter
ein Baum umgefallen daliegt, ist es sinniger anzunehmen, Wind und/oder Blitz
hätten ihn gefällt, als etwa streitende Riesen - obwohl dies prinzipiell vorstellbar
wäre. Das Rasiermesser der Logik schneidet zusätzliche Variablen (wie etwa die
Beweiserbringung, dass es
Riesen gibt) ab. Ganz
am Ende des Romans tut der argentinische Student dasselbe mit eventuellen Verschwörungstheorien
im Zusammenhang zur Mordserie.
Nicht genug der
mathematischen Geheimniskrämerei: Noch ein weiteres Mysterium der
formelbrütenden Zunft bringt Guillermo Martínez - wie sein Romanheld selbst
studierter Mathematiker - aufs Tapet. Jenes von "Fermats letztem Satz". Pierre
de Fermat (1607-1665) hatte als Randbemerkung in einem Buch über den
griechischen Arithmetiker Diophant niedergeschrieben, dass ihm der Beweis
gelungen wäre, warum der Satz des Pythagoras a2 + b2 =
c2 nur für die Zweierpotenz, nicht aber für alle höheren ganzzahligen
Potenzen gilt. Leider, so Fermat, reiche der Platz nicht aus, diese
Beweisführung im Detail auszuführen. Betrüger oder Genie? Die nächsten drei
Jahrhunderte versuchten sich Mathematiker der Reihe nach darin, "Fermats letzten
Satz" hieb- und stichfest zu belegen. Eine hohe Geldprämie war ausgesetzt
worden, und es gab
Selbstmorde aus
wissenschaftlicher Verzweiflung - sprich alles, was zur Legendenbildung nötig
ist. Erst 1995 war dem Briten Andrew Wiles der Beweis letztlich gelungen. Wiles
kommt als Nebenfigur in "Die Pythagoras-Morde" vor: Am 23. Juni 1993 war
er in Oxford zur ersten Beweisführung angetreten, die aber gescheitert war.
Martínez baut diese Realepisode in seinen Kriminalroman ein.
Was Wiles angeht, hat Guillermo Martínez vielleicht ein paar kleine Anleihen
bei Simon Singhs Buch "Fermats letzter Satz" genommen. Im logischen Grundmuster
erinnern "Die Pythagoras-Morde" an den Roman eines anderen lateinamerikanischen
Autors: "Das Klingsor-Paradox"
des Mexikaners Jorge Volpi. Darin geht es um die umstrittene Person des Physikers
Werner Heisenberg, den die Einen als Verhinderer der Nazi-Atombombe ansehen,
die Anderen als Hitlers geheimen Forschungschef (Codename "Klingsor"). Das was
Heisenberg für Volpi ausmacht, ist der fiktive Arthur Seldom für Martínez. Der
Zugang zu ihm bleibt ambivalent. Dem jungen argentinischen Studenten erscheint
er wie Sherlock Holmes und
Dr. Moriarty zugleich. Seldom ist die große Unbekannte im Roman, die Variable,
die es zu besetzen gilt. Wer Oxford schon mal besucht hat, der weiß, wie gut
diese geheimnisvolle Doppeldeutigkeit zu der dort omnipräsenten Gedankenlastigkeit
und (neo-)gotischen Architektur passt. Martínez hat für diese Art Roman das
perfekte örtliche Ambiente gewählt: eine Stadt, deren Zentrum praktisch eine
einzige auf Colleges zersplitterte Universität ist.
Leser, die einen primär
emotionsgeladenen Krimi bevorzugen, sollten von "Die Pythagoras-Morde"
Abstand nehmen wie eine Parallele von der anderen. Denn obwohl menschliche
Abgründe und tiefe Gefühle darin beschrieben werden, geschieht dies mit der
kalten Präzision der Mathematik. Romanfreunde, die sich hingegen gerne in
logische Paradoxa und vernetzte Gedankenkorridore hineinwagen, sollten sich -
vorerst zaghaft wie die Tangente - dann aber - mit der Schneid einer Sekante -
immer selbstbewusster an Martínez’ Seiten heranwagen.
(lostlobo; 02/2005)
Guillermo Martínez: "Die
Pythagoras-Morde"
Übersetzt von Angelica Ammar.
Gebundene Ausgabe:
Eichborn, 2005. 205
Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Taschenbuch:
Heyne, 2008.
Buch
bei amazon.de bestellen
Guillermo Martínez wurde am 29. Juli 1962 in Bahía Blanca geboren und lebt seit 1985 in Buenos Aires. Er ist promovierter Mathematiker und verbrachte einen Teil seiner Doktorandenzeit an der Universität in Oxford. "Die Pythagoras-Morde" ist sein erster Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde, für den er 2003 den Premio Planeta erhalten hat und mit dem er wochenlang die argentinische Verkaufsbestenliste anführte. Lien zur Netzseite des Autors: https://www.guillermomartinez.8m.net/.
Weitere Bücher des Autors:
"Roderers Eröffnung"
Der gefeierte Roman des argentinischen Erfolgsautors über das tragische
Duell zweier junger Menschen, deren überragende Intelligenz sie in Welten
katapultiert, in dem das Leben keinen Platz hat.
Eine ungewöhnliche Schachpartie gegen den erst kürzlich zugezogenen
Mitabiturienten Roderer erschüttert den sonst siegesgewissen Ich-Erzähler des
Buches. Vor allem die demütigende Unausweichlichkeit der Niederlage - Figur um
Figur eliminierte Roderer vom Spielfeld, um erst ganz am Ende den Todesstoß zu
setzen - ist es, die den Erzähler irritiert: obwohl selbst hochintelligent,
muss er sich eingestehen, dass er der intellektuellen Unerbittlichkeit Roderers
nicht gewachsen ist. Doch in die neidvolle Bewunderung für das Genie mischt
sich die Ahnung einer Tragödie: denn während er sich selbst immer mehr mit den
Gegebenheiten der Welt arrangiert, beobachtet er, wie Roderer sich immer stärker
vom Leben entfernt. Freunde, die Frau, die ihn liebt, seine Familie und schließlich
sich selbst, all das opfert Roderer, um das Einzige zu bekommen, das er braucht:
Zeit. Zeit für die Vollendung seines einsamen Unterfangens, dem Versuch, dem
Wesen des absoluten Wissens auf die Spur zu kommen. (Eichborn)
zur
Rezension ...
Buch
bei amazon.de bestellen
"Der langsame Tod der Luciana B."
Ist ein virtuoser Kriminalschriftsteller auch ein perfekter Mörder?
Als der argentinische Schriftsteller eines Abends die Tür öffnet, traut er
seinen Augen nicht: Vor ihm steht Luciana, seine ehemalige Sekretärin. Aus der
einstmals so attraktiven jungen Studentin ist eine totenblasse, ausgemergelte,
ältliche Frau geworden. Noch unglaublicher sind die Ereignisse der vergangenen
Jahre, von denen ihm Luciana erzählt: Zuerst ertrank ihr Verlobter auf rätselhafte
Weise beim morgendlichen Schwimmen im Meer, dann starben ihre Eltern an einer
Pilzvergiftung, und schließlich wurde ihr Bruder bei einem Raubüberfall brutal
ermordet. Für Luciana gibt es dafür nur eine Erklärung: ein Rachefeldzug von
Kloster, dem berühmten Kriminalschriftsteller, für den sie jahrelang
gearbeitet hat und dessen erotische Avancen sie stets abgewiesen hatte ...
In seinem brillanten Roman inszeniert Guillermo Martínez das Drama einer jungen
Frau, die ohne eigenes Verschulden schuldig wird und deren Sehnsucht nach Erlösung
sie unaufhaltsam in die Arme eines scheinbar skrupellosen Mannes treibt.
(Eichborn)
Buch
bei amazon.de bestellen