Juan Marsé: "Liebesweisen in Lolitas Club"
Gefährliche
Unabhängigkeit
Wenn persönliche Freiheit unterschiedliche Bedeutungen
erhält
Juan Marsé, Altmeister der katalanischen Literatur,
inszeniert mit "Liebesweisen in Lolitas Club" eine moderne,
eindringliche, tief berührende Erzählung, die alles
Andere als romantisch ausgeht.
Marsé hat seinen Roman an Spaniens Costa del Garraf, in den
winterleeren Küstenort Castelldefels, gesetzt. Doch die
landschaftlich reizvolle Mittelmeerküste ist bei dem
katalanischen Autor keine idyllische Hommage an seine Heimat.
In unverwechselbar bildhaftem, geradezu cineastischem Stil berichtet er
über die schmutzige Welt der Mafia und deren
untrügliche Begleiterscheinungen: Prostitution, Drogen, Gewalt
und Geldwäsche.
Dreh- und Angelpunkt ist "LOLITA'S CLUB", ein an der
Schnellstraße nach Barcelona liegendes Animierlokal.
Prostituierte verkaufen hier Abend für Abend ihre
Körper an Männer auf der Durchreise. Darunter auch
die kolumbianische Milena, eine von vielen jungen Frauen, die vor der
Misere ihres Landes geflohen sind und schließlich in der
Prostitution landen, weil sie sich verpflichtet fühlen, die
beträchtlichen Schulden abzuzahlen, die ihnen durch die
Schleuser-Mafia entstanden sind.
Die Idee zu diesem Roman kam Marsé, als er vor einigen
Jahren gemeinsam mit einer jungen Kolumbianerin in einem Lokal in
Castelldefels einige Gläschen trank.
Ursprünglich als kurze Erzählung geplant, arbeitete
der Autor den Text auf Anregung des spanischen Filmproduzenten und
Regisseurs Fernando Trueba zu einem Drehbuch um, um letztendlich doch
noch einen Roman daraus zu stricken. Entstanden ist ein
Buch, dessen Szenen große Bildhaftigkeit ausstrahlen und das "mehr
mit dem Herzen, als mit dem Kopf geschrieben sei", berichtet
der Autor.
Die Erzählung erschüttert den Leser tiefgreifend. "Fiktion
möchte die Wirklichkeit repräsentieren, nicht sie
verdrängen", sagte Marsé in einem
Interview.
Doch will er mit diesem Buch niemanden anklagen und kritisieren,
erklärt der Autor, "sondern nur versuchen,
Gefühle zu vermitteln". Trotz aller Härte
und des Leids der jungen Frauen gibt er in seinem Roman den Werten
Liebe, Güte, Zuneigung und Freundschaft eine Chance.
Zwillingsbrüder, die unterschiedlicher nicht sein
könnten
Temporales Rahmenkonstrukt ist die Geschichte von den
dreißigjährigen Zwillingsbrüdern Fuentes.
Beide sehen zwar fast identisch aus, könnten aber
unterschiedlicher nicht sein.
Der eine, Raúl, ist ein trinkender, gewalttätiger,
mit Worten eher sparsamer Polizist, der die brutale Sprache der
Fäuste besser beherrscht. Bei der ETA als verdeckter Ermittler
eingeschleust, ermittelte er für ein baskisches
Drogendezernat.
Von seiner Kollegin Maria wird er zu Recht als "Hurensohn"
bezeichnet, denn Frauen verachtet er fast genauso wie
ETA-Angehörige oder die piekfeinen Sprösslinge der
Mafia-Sippen, deren "Scheißkerle" er gern
krankenhausreif schlägt.
Jetzt ist ein Disziplinarverfahren gegen ihn anhängig. Er wird
vorläufig vom Dienst suspendiert und kehrt nach langer Zeit in
seine Heimat zurück. Hier in Katalonien lebt sein Vater, ein
früherer Widerstandskämpfer gegen Franco, mit seiner
jungen zweiten Frau und Raúls Zwillingsbruder
Valentín.
Dieser zwar geistig zurückgebliebene, aber
charmant-liebenswerte und verträumte junge Mann hat
während der langen Abwesenheit seines Bruders einen
großen Schritt in die eigene Selbstständigkeit
getan. Valentín arbeitet in "LOLITA'S CLUB" als
"Mädchen für alles", ist Kellner, Koch und Bote
für die Prostituierten und bringt mit seiner unschuldigen
Großherzigkeit und Lebenslust Wärme,
Zärtlichkeit und so etwas wie Liebe in den traurigen Alltag
der gestrandeten Frauen. "Das Wenige reichte ihm aus, um ein
besserer Mensch zu sein" als sein Bruder, stellt Milena, die
junge Kolumbianerin, fest.
Sie hat es ihm besonders angetan: Er ist verliebt in sie.
Maske einer Obsession
Raúl ist schockiert, als er davon erfährt. Ihm
gefällt die Arbeit seines Bruders in diesem Lokal nicht. Er
will, wie schon in gemeinsamen Kindertagen, seinen Bruder
beschützen; meint, dass dieser von den "elenden
Nutten" nur ausgenutzt wird. Doch in Wahrheit müsste
"er sich vielmehr vor sich selbst schützen",
wie sein Vater feststellt. Im "Innersten trostlos",
sind die Fasern seines unsichtbaren "Wäschedrahts
aus Alkohol und Verzweiflung, der in seinem Gewissen gespannt ist",
kurz vor dem Zerreißen. Seine Bitternis rührt vor
allem aus Erinnerungen an seine Kindheit und seine Mutter. Sie
verließ die Familie, um sich zu prostituieren.
Raúl unternimmt alles, um Valentín aus diesem
Etablissement zu entfernen und vor allem von Milena zu trennen,
für die er gleichzeitig eine eigene Obsession entwickelt. Ein
ungleicher Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung beginnt.
Eine tragische Wendung des Schicksals wird am Ende Raúl
begünstigen, der sich auf Kosten seines Bruders
schließlich befreien wird und all das gerade richten will,
was er einst verbogen hat, "diktiert vom Willen, etwas
wiedergutzumachen oder von der Erinnerung an Valentín, von
der ganz neuen Erfahrung der Zuneigung oder einfach vom Begehren..... ".
Beweglicher Rhythmus
Mit einem beweglichen Rhythmus, dialogreich, hart und schnell, dann
wieder atemporal und voll von subtilen Zwischentönen
konstruiert Marsé die Geschichte einer persönlichen
Selbstbefreiung und führt trotz aller Brutalität und
brachialer Gewalt vor, wozu Liebe imstande ist.
Gleichzeitig zeichnet er ein ebenso klares wie ungeschöntes
Panorama der aktuellen spanischen Gesellschaft mit all ihren Problemen
um Mafia, Terrorismus,
Einwanderung -
verwoben in einem komplizierten Spiel
persönlicher Beziehungen.
"Liebesweisen in Lolitas Club" ist ein äußerst
frisches und lebendiges Werk Juan Marsés in einer
hervorragenden, flüssigen Übersetzung von Dagmar
Ploetz.
Das Drehbuch wurde dem Autor übrigens letztendlich doch noch
aus der Schublade gezogen. Mit Eduardo Noriega und Flora
Martínez in den Hauptrollen wurde "Liebesweisen in Lolitas
Club" verfilmt.
(Heike Geilen; 11/2007)
Juan
Marsé: "Liebesweisen in Lolitas
Club"
(Originaltitel "Canciones de amor en Lolita's Club")
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Verlag Klaus Wagenbach, 2007. 256 Seiten.
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Juan
Marsé, am 8. Jänner 1933
in Barcelona geboren, gelang 1966 mit "Letzte Tage mit Teresa" (dt.
1988) der literarische Durchbruch, in dem er das Universum festlegte,
das sein
ganzes literarisches Schaffen prägt: das Barcelona der
Nachkriegszeit. Nach
einer Juwelierausbildung und Arbeiten als Werbetexter und Laufbursche
im Pariser
Institut Pasteur veröffentlicht er seit den späten
1950er Jahren Romane und
Erzählungen, für die er zahlreiche Preise erhalten
hat, u. a. den "Premio
Biblioteca Breve", den "Premio Planeta" und den "Premio Juan
Rulfo"; für "Stimmen in der Schlucht" erhielt er 2001 den
"Premio
Nacional de la Crítica" und im selben Jahr für sein
Gesamtwerk den "Premio
Nacional de Literatura".
Juan Marsé starb am 18. Juli 2020 in Barcelona.
Weitere Bücher des Autors:
"Stimmen in der Schlucht"
Barcelona, im Sommer 1945. Das Haus, das David Bartra mit seiner
Mutter, der
hochschwangeren "Rothaarigen", an einem der Hänge des Tibidabo
bewohnt, hat zwei Eingänge, einen zur Straße und zum
Tag, der andere zur Nacht
und zur Schlucht. Beide verheißen nichts Gutes. Durch die
Hintertür ist Davids
Vater, die Cognac-Flasche in der Hand, Hals über Kopf vor
Francos Geheimpolizei
geflohen und hat sich dabei eine Hinterbacke aufgerissen. Vor der
Tür zur
Straße steht nun immer öfter Inspektor
Galván, der unter dem Vorwand, die
Spur des ehemaligen Widerstandskämpfers zu verfolgen, der
attraktiven Rosa den
Hof zu machen beginnt.
Mit wachsendem Misstrauen beobachtet der Vierzehnjährige die
Avancen Galváns
und setzt alles daran, dessen Annäherungsversuche zu
verhindern. Als der
Inspektor mit Einwilligung der Mutter Davids todkranken Hund beseitigt,
kennt
die Wut des Jungen keine Grenzen mehr. Mit einer fantasievoll
eingefädelten
List gelingt es ihm, den Schergen des Regimes zu vertreiben. Doch die
Täuschung
wird der kleinen Familie zum Verhängnis ... (dtv)
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"Der
zweisprachige Liebhaber"
Was tun, wenn die eigene Frau mit einem Schuhputzer fremdgeht? Juan
Marsé gibt
in seinem hinreißend komischen Roman darauf eine Antwort -
und bezieht ganz
nebenbei auch noch ironisch Stellung zur katalanischen Sprachenpolitik.
An dem Tag, an dem Marés seine Frau Norma, eine katalanische
Patriotin aus
gutem Hause, in flagranti mit einem andalusischen Schuhputzer erwischt,
bricht für
ihn eine Welt zusammen. Der gehörnte Ehemann gibt seine
gesellschaftliche
Stellung auf und verwandelt sich in einen Akkordeonspieler - nur, um
als
zweisprachiger Liebhaber die Ehefrau zurückzuerobern. Der
Haken dabei ist
jedoch, dass die neu geschaffene Persönlichkeit die eigene
immer mehr in den
Hintergrund drängt ...
Mit viel Humor und einer gehörigen Portion Sarkasmus nimmt
Juan Marsé die
katalanische Bourgeoisie aufs Korn. Dabei glänzt er nicht nur
durch
Situationskomik, sondern entwickelt auch einen umwerfenden Sprachwitz,
der ständig
zwischen Hochsprache, Dialekten und Akzenten hin und her wechselt.
(Verlag Klaus
Wagenbach)
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"Der Zauber von Shanghai"
Barcelona in den 1940er Jahren: Mitten in der düstersten
Nachkriegszeit wächst
der vierzehnjährige Daniel in einem Armenviertel der
katalanischen Metropole
auf. Nur auf die Nachmittage freut sich der Junge, denn dann besucht er
die
gleichaltrige, lungenkranke Susana, die in einer prachtvollen Villa ans
Bett
gefesselt ist. Über die Standesunterschiede hinweg bahnt sich
zwischen den
beiden eine zarte Beziehung an. Ihre Gespräche kreisen dabei
immer wieder um
Susanas verschollenen Vater, den exilierten Widerstandskämpfer
Kim.
Eines Tages taucht der mysteriöse Nandu Forcat in der Villa
auf und gibt sich
als Weggefährte von Susanas Vater aus. Eingehüllt in
einen seidenen Kimono
erzählt er den beiden fortan jeden Abend von Kims
abenteuerlicher Suche nach
einem ehemaligen Gestapo-Offizier. Atemlos lauschend tauchen das
Mädchen und
ihr jugendlicher Verehrer ein in das legendäre Shanghai der
vierziger Jahre, in
die mondäne Glitzerwelt der Oberschicht und die Unterwelt mit
Berufsmördern,
Drogenbossen und schönen Frauen.
Bald können Susana und Daniel
Realität und
Fantasie
nicht mehr voneinander
unterscheiden und flüchten sich in diese Traumwelt. Doch die
Wirklichkeit holt
sie immer wieder ein ... (dtv)
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"Die
obskure Liebe der
Montserrat Claramunt"
Offiziell haben ihn berufliche Gründe dazu bewogen, doch
eigentlich sind es die
heimlichen Rendezvous mit seiner verheirateten Cousine Nuria, die den
29jährigen
Paco zu Beginn der 1970er Jahre nach langem Auslandsaufenthalt nach
Barcelona
zurückkehren lassen. Doch nicht nur glückliche
Stunden beschert ihnen das
Wiedersehen. Neben dem Bett, dem einzigen Möbelstück,
das noch in der
verlassenen Villa der Unternehmerfamilie Claramunt steht,
häufen sich
verstaubte
Bücher.
Bücher, die Nurias Schwester Montserrat gehört haben
und nun die Schatten der
Vergangenheit heraufbeschwören: Nach den Grundsätzen
des katalanischen Großbürgertums
hatte die junge, großmütige Montserrat einen
entscheidenden "Fehler"
gehabt, hatte sie doch das laut verkündete Gebot der
Nächstenliebe tatsächlich
auch praktiziert!
Viel zu intensiv kümmerte sie sich um den straffällig
gewordenen Manolo,
wahrte nicht die gebotene Distanz zu den unteren sozialen Schichten.
Man tat zunächst
sein Bestes, um Montserrats wachsende Zuneigung zu dem aus der Haft
Entlassenen
zu unterbinden. Doch als alles nichts nützte, setzte man
hinter ihrem Rücken
eine unheilvolle Intrige in Gang. Was dies bei Montserrat
auslöste: Darüber
wurde und wird in der feinen Gesellschaft nicht gesprochen ... (dtv)
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