Gabriel García Márquez: "Von der Liebe und anderen Dämonen"
Die Wächterin, die hereinkam, um Sierva María für die sechste Exorzismussitzung vorzubereiten, fand sie auf dem Bett, vor Liebe gestorben, mit strahlenden Augen und der Haut einer Neugeborenen. Die Haarstümpfe stiegen wie Bläschen aus dem rasierten Schädel auf, und man sah sie wachsen.
Oh wahrlich! Es ist ein dämonisches Buch! Man
liest es und liest es immer wieder und wieder und ist wie besessen von der magischen
Bilderwelt, welche dem Leser berichtet von irdischen, himmlischen und geistigen
Leidenschaften, von der Liebe und anderen Dämonen. Die Handlung spielt im lateinamerikanischen
Cartagena zur Zeit der spanischen Vizekönige im ausgehenden 18. Jahrhundert
und erzählt von dem tragischen Schicksal der zwölfjährigen Sierva María und
deren düsterem Liebhaber, dem 36jährigen Pater Cayetano Delauro, der eigentlich
als Handlanger seines Bischofs damit befasst sein sollte, das soeben erst zur
verführerischen Schönheit erblühte Mädchen bis zur Einleitung des Exorzismusrituals
zu beaufsichtigen. Ein Ritual übrigens, das zu jener finsteren Zeit immer noch
eine recht üble Sache war, denn die konsequente Ausführung des Exorzismusrituals
bedeutete für den Betroffenen im Regelfall die Erleidung eines qualvollen Todes.
Denn geleitet wurden die grausamen Rituale von Anklägern der
Inquisition,
deren zweifelhafte Ruhmestaten nach geretteten Seelen und verbrannten Körpern
gezählt wurden.
Sierva María de Todos los
Ángeles,
die einzige Tochter des Marqués de Casalduero entstammt desolaten familiären Verhältnissen
und hat ihre unbehütete Kindheit im heidnischen Milieu dunkelhäutiger Haussklaven
zugebracht. Praktisch ohne den geringsten Bezug zum bigotten Katholizismus ihrer
Standesgenossen entfaltet sich die Marquesa zu einem ganz diesseitigen, sinnenfreudigen
Geschöpf vornehmen Gemüts, dessen unverfälschtes Naturwesen selbst noch der eigenen
Familie bald schon verdächtig wird. Eine üble Mischung aus Aberglauben, Charakterlosigkeit
und purer Dummheit (insbesondere auch der eigenen Angehörigen) bringt das Mädchen
schließlich in die schon erwähnte verhängnisvolle Lage, in der es sich verzweifelt
und panisch wie ein wildes Tier zu wehren versteht, und in welcher das Liebesverhältnis
mit einem bleichen Asketen ihr einziger noch verbleibender Hoffnungsschimmer ist.
Der am 6. März 1928 in Aracataca
(Kolumbien) geborene und 1982 mit dem
Nobelpreis
für Literatur ausgezeichnete Romancier
Gabriel García Márquez hat mit diesem
wahrlich kunstvollen Roman einen Höhepunkt, wenn nicht überhaupt den Höhepunkt,
seines Schaffens erreicht. Beschreibungen von atemberaubender Schönheit paaren
sich mit einem leidenschaftlichen Geschehen, das den Leser mit hinabreißt in eine
Stimmung heiterer Melancholie. Es ist ein trauriges Buch, das doch glücklich macht
ob der berauschenden Poesie, die einem zum Geschenk dargebracht wird. Und noch
viel mehr: Es ist ein kritisches, ja subversives Buch, das den Leser lehrt, den
überbrachten Konventionen der Väter als tödlichen Fallen zu misstrauen und dem
Anspruch einer zivilisierten Menschheit auf Allgemeingültigkeit und Dominanz über
das unverfälscht animalische Wesen eine zornige Abfuhr erteilt. Ja, man meint
gar angesichts der unmäßigen Lebenskraft des Mädchens, in der Verkörperung ihrer
Leidensgestalt Friedrich
Nietzsches Figur des Übermenschen zu erblicken, denn noch im Zustand tiefster
Erniedrigung ist die Vernunft ihres schon zum Skelett abgemagerten Leibes eine
Vernunft der Rebellion, gerichtet gegen den wahrlich schon zur Nekrophilie missratenen
Geist klerikaler Lebensverneinung. Symbol ihrer Auferstehung und ihres Obsiegens
über diesen Ungeist wird letztlich das unbändige Wachstum ihrer herrlichen Haarpracht
sein, dem selbst noch der frühe Tod keinen Einhalt gebieten kann.
Was
für eine wunderbare, heidnische Paraphrase auf den christlichen Auferstehungsmythos,
geflossen aus der Feder eines Magiers der Erzählkunst. Und eine bissige Revolte
gegen die düsteren Aspekte eines asketischen Ideals, dessen alles Animalische
verleumdende Praxis noch in der höchsten Selbstbejahung edler Lebensgesinnung
eine dämonische Besessenheit zu erkennen meint.
(Harald Schulz; 11/2002)
Gabriel García Márquez:
"Von der Liebe und anderen Dämonen"
Kiepenheuer
& Witsch, 1994. 223 Seiten.
ISBN 3-462-02360-8.
ca. EUR 19,90.
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