Philosophie als Medizin für die Seele
Lou Marinoff, Amerikaner
und Doktor der Philosophie, tritt in die Fußstapfen des Deutschen Gerd Achenbach,
des Vaters der Bewegung praktischer Philosophie in den Achtzigern des 20. Jahrhunderts,
wenn er aus der Philosophie wieder das machen will, was sie von Anbeginn war:
ein Instrument für jeden Menschen, um sich den Problemen des Alltags zu stellen
und diese zu bewältigen. Er entwickelte ein fünfstufiges Programm, PEACE genannt.
Als erstes ist das Problem zu bestimmen, und sehr oft ist es gar nicht einfach
die Parameter zu erkennen und es auf den Punkt zu bringen. Als zweites muss erkannt
werden, welche Emotionen durch dieses Problem hervorgerufen werden. Die Gefühle
müssen empfunden und dann konstruktiv kanalisiert werden. Der dritte Schritt besteht
darin, in einer Analyse die Möglichkeiten aufzuzählen, mit denen die Probleme
gelöst werden können, und diese zu bewerten.
In der vierten Phase (Contemplation)
tritt man einen Schritt zurück, um einen größeren Blickwinkel zu bekommen und
die Gesamtsituation zu betrachten. Dies ist der philosophische Kern des PEACE-Prozesses.
Es werden philosophische Einsichten, Systeme und Methoden verwendet, um die Situation
in ihrer Ganzheit zu bewältigen. Man nimmt durch die Kontemplation eine philosophische
Haltung ein, die auf Grund der Vorzüge zu rechtfertigen als auch mit dem eigenen
Wesen der betroffenen Person zu vereinbaren ist. Daraus resultiert ein seelisches
Gleichgewicht (Equilibrium). Man versteht das Wesen des Problems und ist bereit,
angemessene und gerechtfertigte Handlungen zu unternehmen.
In seinem
PEACE-Prozess geht Lou Marinoff ein Stück über die psychiatrische hinaus, indem
er versucht, den Menschen in einen größeren Zusammenhang zu sehen. Doch ebenso
erliegt er der amerikanischen Sichtweise der Dinge, der zufolge jeder Mensch sein
Leben völlig selbst gestalten kann, und vergisst gänzlich, dass viele Menschen
Opfer struktureller Ungerechtigkeiten sind, derer sich die europäischen Politiker
doch ein Stück weit annehmen, im Gegensatz zu ihren amerikanischen Kollegen. Darüber
hinaus scheint die Psychologie in Amerika stark vom Behaviorismus und der Psychoanalyse
dominiert zu sein. Denn vieles, was in unserem Land Teil einer psychologischen
Beratung ist, führt er als Werkzeuge der philosophischen Beratung an.
Da die Wenigsten
Philosophie studiert
haben und dementsprechend wenige philosophische Standpunkte kennen, stellt er
diese in zwei Kapiteln dar. Im ersten gibt er einen Überblick über die philosophischen
Strömungen des Westens und des Ostens, wobei er nicht auf die islamischen Philosophen
eingeht. Im Kapitel am Ende des Buches führt er eine Hitparade der wichtigsten
Philosophen und deren Gedanken an. Dieses Buch wäre kein Ratgeber, wenn nicht
konkrete Fallbeispiele besprochen würden. Und so führt uns Marinoff durch das
Thema Beziehungen, erzählt von Menschen, die Beziehungen anknüpfen wollen, von
solchen, die Beziehungen aufrechterhalten wollen, und solchen, die Beziehungen
beenden wollen. Meist geht es um Frauen, die in Zwiespalt geraten, weil sie
ihrer Rolle als einer sich unterordnenden Frau nachzukommen versuchen. Und wo
ein gesunder
feministischer Ansatz
gewünscht wäre, lässt uns Marinoff im Stich und verweist auf
Konfuzius,
einen alten chinesischen Patriarchen. Interessanter sind die Kapitel, die sich
mit Moral und Ethik und mit der Suche nach Sinn und Zweck unseres Daseins beschäftigen.
Hier
zeigt er ein Fülle von Herangehensweisen auf, wie man es selten in der Ratgeberliteratur
findet. Da diese Thematiken doch die Basis vielen philosophischen Überlegens sind,
ist es schade, dass der Autor sie nicht umfangreicher gestaltet hat. Und obwohl
er mehrfach die zunehmende moralische Verwahrlosung seiner Landsleute anprangert
und es deutlich spürbar wird, welche ganz persönliche Ansicht er vertritt, hilft
er nicht dabei, ein eigenes ethisches System zu schaffen.
Positiv bewerten kann man sein Anliegen, die Philosophie wieder unter die Leute
zu bringen. So schildert er die Möglichkeit philosophischer Treffen in philosophischen
Cafés und stellt den
sokratischen Dialog
vor, mit dessen Hilfe eine Gruppe von Laien unter Anleitung eines Philosophen
- wessen sonst - sich wichtigen Themen unseres Daseins nähern und Antworten
auf Fragen wie "was ist Hoffnung" o. ä. finden kann.
Sein
schon überaus facettenreiches Buch beendet er mit einer Gebrauchsanweisung für
das "I Ging" oder "Das Buch der Wandlungen", welches eine Schatztruhe philosophischer
- was sonst - Weisheiten ist.
(Dr. Hans-Peter Oberdorfer; 10/2002)
Lou Marinoff: "Bei Sokrates auf der Couch"
dtv,
2002. 320 Seiten.
ISBN 3-423-36285-5.
ca. EUR 12,50.
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