Henning Mankell: "Die falsche Fährte"


"Die Barbarei trägt immer menschliche Züge. Und das macht die Barbarei so unmenschlich."

Diese beiden Sätze finden sich im Epilog des gegenständlichen Kriminalromans, zu dem der Autor im Nachwort kryptisch anmerkt: "Dies ist ein Roman. Das bedeutet vor allem, dass keine der Personen, die darin vorkommen, in der Wirklichkeit existiert. Dennoch ist es nicht immer möglich und auch nicht notwendig, jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen zu vermeiden."

Für gemeinhin ist es das Strickmuster von Krimis, dass der Leser weniger weiß als die ermittelnden Kriminalbeamten. Verschiedene Personen werden im Ablauf der Handlung verdächtigt, doch wer tatsächlich der Mörder ist, erfährt der Leser regelmäßig erst gegen Ende der Handlung. Und er erfährt es vermittels dem kriminalistischen Genie des Kriminalbeamten. Die Spannung nährt sich aus der Rätselhaftigkeit eines Geschehens, dem nur virtuose Helden noch gewachsen sind.
Anders verfährt Henning Mankell in seinem Kriminalroman "Die falsche Fährte". Der Leser weiß um die konkrete Person des Mörders und sein Motiv mehr oder weniger von Anfang an Bescheid. Ist zu Beginn die Gestalt des mordenden Täters erst noch schemenhaft umrissen, so gewinnt sie doch zügig an Konturen.
Nach etwa dreihundert Seiten kennt der Leser in groben Zügen seine Lebensgeschichte und begreift das ungeheuerliche Verbrechen, das sein Tatmotiv speist. Und somit weiß der Leser eben entschieden mehr als der die Ermittlungshandlungen leitende Beamte Kurt Wallander von der schwedischen Kriminalpolizei.

Dieser verfolgt die falsche Fährte, weil er einfach nicht glauben will, was auch er bald schon ahnt, der Leser längst schon weiß (und was hier nicht verraten wird). Tatsächlich - und daran besteht von den ersten Seiten an kein Zweifel - ist der Mörder schlechthin kein Bösewicht, sondern ein Mensch, dem unser Mitgefühl gebührt. Seinen Verbrechen gingen die Verbrechen jener voran, die er nun wegen ihrer Verbrechen richtet. Dem bloßen Anschein nach übt er Selbstjustiz, obgleich auf eine sonderbare rituelle Art und Weise, die, weil dem Heil eines misshandelten Mädchens dienend, nicht den Tatbestand der Selbstjustiz verwirklicht. Der Mörder realisiert sich in seinem handlungsleitenden Motiv als Heiland, der, einem archaischen Kodex folgend, sein Morden zum Guten wendet. Wäre sein Handeln nicht so verrückt, wäre es stattdessen bloße Selbstjustiz, welche die untätige Justiz ersetzt, der Leser käme in Versuchung dem Rachfeldzug insgeheim zu applaudieren.

Will Wallander nun die Morde aufklären und den offensichtlich wahnsinnigen Täter stellen, so muss er zuvor die Verbrechen jener aufklären, die jetzt Opfer sind und welche die Wahnsinnstaten ihres Mörders ursächlich zu verantworten haben. Das Täterprofil des unbekannten Mörders leitet sich gewissermaßen aus dem Verständnis der kriminellen Energien seiner Opfer ab. Solcherart erhellt Wallander ganz beiläufig die Fäulnis im Gebälk des schwedischen Musterstaates, in dem Einzelne aus der Elite von Politik und Wirtschaft sich über jede sittliche und rechtsstaatliche Norm stellen. Grauenhafte Vergehen werden da mit Geld und Einflussnahme strafffrei gestellt und mangels Sanktionierung durch den korrumpierten Rechtsstaat als liebgewordene Praxis fortgeführt. Rechtsbruch als Standesprivileg einer neuen Herrenschicht, hinter deren feudalistischem Lebensstil sich Abgründe auftun.

Mankell setzt ein klares Zeichen, wenn einer der verabscheuungswürdigsten Gestalten - und Mordopfer - in seinem Roman dermaleinst das Amt des schwedischen Justizministers innehatte und für seine unlauteren Zwecke nutzte. Man erkennt die Gesellschaftskritik im Text, die sich zwar dem Primat des Erzählflusses unterordnet, sich bescheiden zurücknimmt, die Spannung nicht stört, nicht dröhnt und doch deutlich zu jedem spricht, der verstehen will: In einem Land, in dem die unschönen Konsequenzen aus unappetitlichen Affären prominenter Persönlichkeiten vertuscht und niedergebügelt werden, verkommt der verbindliche Respekt vor der Würde und den Rechten des Mitmenschen zur ethischen Beliebigkeit. Ist man nicht mehr willens, Mittel zum Schutz der Sittenordnung bereitzustellen, reagiert man auf selbstherrliche Rechtsansprüche Einzelner sowie auf die alltägliche Gewalt zwischen Menschen nur noch gleichgültig und augenzwinkernd, so darf es nicht wundern, wenn es zum Aufstand der gequälten Kreaturen gegen ihre Peiniger kommt und der Prozess der Zivilisation in ein barbarisches Zeitalter mündet.

Kurt Wallander, der liebenswürdige Kriminalbeamte im Zentrum der Handlung, ahnt die Verantwortung, die in einer Zeit der enttäuschten gesellschaftlichen Erwartungen und des Abbaus stabilisierender Strukturen auf ihm lastet. Seine ausgeprägte Dienstethik verwirklicht sich - beinahe neurotisch - als rastloser Ermittlungszwang, der ihm nebenbei hilft seine privaten Miseren zu vergessen. Dass er in seiner privaten Lebensführung in vielerlei Hinsicht untüchtig ist und auch beruflich nicht unbedingt brilliert, macht ihn zum sympathischen Antihelden, dem man jeden dienstlichen Erfolg von Herzen gönnen würde.
Aber gerade weil der Leser immer einen Wissensvorsprung vor Wallander besitzt, verkörpert sich dieser für den Leser vorwiegend in seinen Ermittlungsfehlern und Versäumnissen, derweil wesentliche Ermittlungsfortschritte weniger bis gar nicht auffallen und immer zu spät kommen müssen.

Henning Mankell bleibt im Fahrwasser des klassischen Kriminalromans, wenn er gegen Ende des Romans seinen Kommissar die Ermittlungen zum Kriminalfall erfolgreich abschließen lässt. Trotzdem wird der Leser keineswegs das Buch mit Erleichterung über den scheinbaren Sieg des Guten beiseitelegen (der zudem kein Sieg über das Böse war), sondern er wird so wie Wallander einen großen Zorn in seiner Brust spüren, einen Zorn über gesellschaftliche Entwicklungen, welche im Schatten großartiger zivilisatorischer Aufbauleistungen in Form unsichtbarer Zerstörung heimlich vor sich gegangen sind und es immer fraglicher machen, ob gewaltfreie Problemlösung in Zukunft noch möglich sein wird.

Diesem Buch sollte im Anschluss an die Lektüre eine politische und kriminalsoziologische Diskussion folgen, weil, dass es Mädchenhandel (Sklaverei) in der Europäischen Union gibt, darf genauso wenig bezweifelt werden, wie die allgemein bekannte Tatsache, dass Justiz und öffentliche Verwaltung auch hierzulande keineswegs immun gegen Interventionen mit krimineller Energie sind. Wie schon in dunklen Vorzeiten gibt es auch heute eine Herrenschicht, auf die sich Mankells Nachwort bezieht, welches klarstellt, dass es nicht immer möglich und auch nicht notwendig ist, jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen zu vermeiden.

Dass die Vermeidung von solchen Ähnlichkeiten nicht notwendig ist, verstehe ich einerseits als Aufruf zum mutigen Engagement und andererseits als ermutigende Feststellung, dass es - zumindest in den europäischen Demokratien - nicht notwendig ist aus Angst vor der Herrenschicht solche Ähnlichkeiten zu vermeiden.
Es sei Henning Mankell gedankt für dieses großartige, leicht und spannend geschriebene Buch, das ich in nachdenklicher Stimmung in das Bücherregal zurückschiebe.
Ich hoffe, dass auch andere Leser hernach so aufgewühlt sind, wie ich es jetzt bin, und nicht meinen, sie hätten bloß einen unterhaltsamen Kriminalroman gelesen, der in origineller Weise das Täter-Opfer-Schema umkehrt und nebenbei Symptome gesellschaftlicher Dekadenz beklagt.
Es mag jedermanns Recht sein, dieses Buch einfach nur zu genießen, doch, hat er den Zorn des Wallander nicht selbst gespürt, so hat er das Buch nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit gelesen. Uns allen ist jedoch Ernsthaftigkeit aufgetragen, angesichts der unsichtbaren Zerstörungen, die uns somit mittels engagierter Literatur zur Kenntnisnahme gebracht werden. Und hoffen wir, dass Beamte wie Wallander auch in unseren Landen keine Rarität sind.

"Man fühlt sich sicher, wenn Polizisten hart arbeiten", sagt eine Person in der Handlung. Ja, man fühlt sich sicher, selbst wenn dann nur einer armen gequälten Kreatur das Handwerk gelegt wird, die ihre Peiniger mordete.

(haschu)


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Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt.
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