Henning Mankell: "TEA-BAG"
Henning Mankell hat die
Aufgabe übernommen, speziell für Graz, die Kulturhauptstadt Europas 2003, ein
Stück zu schreiben.
"Butterfly blues"
wurde von der Kritik differenziert aufgenommen. Die Hauptfigur des Stücks für
Graz03 ist auch die Titelfigur des vorliegenden Romans. Schon aus dem Titel
lässt sich das entscheidende Thema des Buches ableiten: Nämlich die Namenlosigkeit
von Flüchtlingen. Die junge Frau aus Nigeria hatte irgendwann mal einen Namen.
Das ist aber schon lange her. Und sie musste zu einem leise auf der Erde kriechenden
Menschen ohne Namen werden, um für sich überhaupt eine Existenzberechtigung
artikulieren zu können. Die Vergangenheit liegt begraben, und die Wunden können
jederzeit aufbrechen. "Tea-Bag" ist der Schutzmantel, hinter dem sich die Frau
ohne preisgegebene Identität versteckt. Ein Flüchtling hat bessere Chancen,
zumindest eine Zeit lang in einem Land (wenn auch unter fragwürdigen Bedingungen)
aufgenommen zu werden, insofern er keine Angaben über seine Herkunft macht,
und freilich ebenso seinen Namen verschweigt. Ein leeres Blatt muss erst ausgefüllt
werden, ehe es in irgendeiner bürokratischen Weise behandelt werden kann. Dies
ist die Intention, die hinter dem Teebeutel steckt, der in der Teetasse eines
Kommandanten eines x-beliebigen Flüchtlingslagers darauf wartet, in den Restmüll
geworfen zu werden. Die junge Frau wird so lange diesen Namen angeben, bis die
Menschen rund um sie herum endlich die richtigen Fragen stellen. Und das kann
sehr lange dauern.
Während die junge Frau aus Nigeria beschlossen
hat, dass "Tea-Bag" ihr Name sei, der sie vor weiteren sinnlosen Fragen bewahren
mag, benützt die zweite Hauptfigur der Geschichte eine Vielzahl an Namen, von
denen irgendeiner möglicherweise sogar der Richtige sein mag. Auch sie, die
von Mädchenhändlern nach Schweden eingeschleuste Russin, wird sich hüten, je
ihre Deckung zu verlassen. Nur Leyla, die dritte Hauptfigur, befindet sich "legal"
in Schweden, und somit stimmt wohl ihr Name. Was diese drei Frauen vereint,
ist der Besuch eines Schreibseminars bei Jesper Humlin, einem mittelmäßigen
Poeten, der sich tunlichst weigert, einen Kriminalroman für seinen karrieregeilen
Verleger zu schreiben. Jesper glaubt, sich in des Teufels Küche zu begeben,
wenn er seine "Schützlinge" auffordert, ihre Geschichten zu erzählen. Er wird
aber innerhalb kürzester Zeit erkennen, dass diese Geschichten sein Leben beeinflussen
könnten. Doch Jesper denkt nicht altruistisch, indem er die Schicksale der Frauen
zu verstehen sucht, sondern hat nur einen möglichen Roman im Kopf, der eben
jene Geschichten, mit ein wenig poetischer Würze versehen, erzählt. Überhaupt
ist Jesper sehr marktorientiert. Er empfindet es als ärgerlich, dass seine 87-jährige
Mutter mit Telefonsex viel zu viel Geld verdient, und ein 24-jähriges Bürschchen,
das sich als sein Börsenmakler ausgibt, es sich leisten kann, sündhaft teure
Seminare zum Zwecke der inneren Einkehr mehrmals jährlich zu besuchen. Und er,
Jesper, geht vor die Hunde, da sein Aktienpaket von Tag zu Tag an Wert verliert,
und seine Freundin unbedingt ein Kind mit ihm zeugen und aufziehen möchte. Oh,
du meine Güte! Der Schriftsteller hätte die schwarzhäutige Frau übersehen sollen,
als sie ihm anlässlich einer Vorlesung eine seltsame Frage stellte. Überhaupt
wäre es besser gewesen, er hätte sich auf die Sache nicht eingelassen.
Die Geschichten
der drei Frauen aus Nigeria, Russland und dem Iran bilden das Herzstück des Romans.
Es sind berührende Mosaikteilchen, die einen Eindruck davon vermitteln mögen,
wie individuell die Schicksale der Flüchtlinge auf dieser Welt gezeichnet sind.
Wie Jesper Humlin auf die Frauen und ihre Erfahrungen reagiert, wie er mit ihnen
spricht, wie er ihre Geschichten auffasst, ist so etwas wie ein Wort, das in den
Sand geschrieben ist, und von Tag zu Tag vom Wind so undeutlich gemacht wird,
worauf es wieder von neuem geschrieben werden muss: TOLERANZ. Nur muss diesem
Wort leider ein Fragezeichen angefügt werden. TOLERANZ? Jesper Humlin nämlich
sieht die Frauen durch die rosarote Brille, hinter der die Untiefen des Lebens
verborgen sind. Er schreibt zwar Gedichte, vermeidet es jedoch, in die Augen von
Menschen zu schauen, hinter denen die Hölle liegt und immer noch lauert. Genau
dies wird ihm auch von verschiedensten Menschen vorgeworfen. Er selbst müsste
es sein, der das Fragezeichen nach TOLERANZ wegwischt. Denn die Frauen, die sein
Schreibseminar besuchen, verstehen nicht, wieso er ihnen nicht zuhören will. Er
hört ihre Geschichten und sieht die Dollarzeichen dahinter aufblinken. Die persönliche
Anteilnahme bleibt jedoch ausgespart.
"Tea-Bag", die Frau ohne Namen, sucht ihren Stand in der Welt Tag für Tag neu,
während Jesper, der Mensch mit Namen, nicht einmal weiß, wie er die banalsten
Dinge handhaben soll. Er ist die Karikatur eines Dichters, der die Worte nur
für sich arbeiten lassen will. Es ist so, wie das Schreiben in den kühnsten
Alpträumen vor sich gehen mag: Während etwas Ungewöhnliches passiert, wird schon
nach den Wörtern gesucht, die dieses Ungewöhnliche beschreiben könnten. Aber
kann das Ungewöhnliche beschrieben werden? Und ist es nicht seelischer Missbrauch
eventuell involvierter Menschen und sich selbst gegenüber, sollten diese Worte
geschrieben sein? Der
Mensch wird in sich selbst zum
Wolf?
Und die erlegten Tiere sind die Trophäen, die dann zwischen Buchdeckeln wieder
zum Leben erweckt werden?
Die Situation der Flüchtlinge überall auf der Welt ist meist grauenvoll.
Was immer für Gründe auch vorhanden waren und sind, dass sie zu Flüchtlingen wurden:
Sie sind niemals "illegal" in einem Land. Sie können nicht Luft sein für ihre
Mitmenschen. Es kann nicht sein, dass etwa in Traiskirchen Horrorgeschichten umgehen,
als ob nahezu jeder Flüchtling eine potenzielle Gefahr für seine Umgebung darstellt.
Flüchtlinge sind dazu gezwungen, keinen Namen zu haben. Und doch sind sie aus
Fleisch und Blut, und ihr Dasein lässt sich nicht wegretuschieren. Ein schreckliches
Bild formuliert "Tea-Bag": Die Flüchtlinge, die es nicht geschafft haben, in das
"gelobte Land" verschifft zu werden und am Meeresgrund vermodern, werden irgendwann
eine Leichenbrücke bilden, durch die Kontinente miteinander verbunden sind. "Der
lange Marsch" über Leichen. Eine grauenhafte Vorstellung. Es darf nicht sein,
dass ununterbrochen Menschen ihr Leben lassen müssen, weil sie wissen, am Ziel
ihrer Träume nicht erwünscht zu sein. Von potenziellen Einwanderern geforderte
Menschen müssten eine Brücke bauen, die nicht auf Leichen, sondern Freundschaft
und Toleranz ohne Fragezeichen, baut. Dies mag angesichts der Situation, die Menschen
auf dieser Welt geschaffen haben, illusorisch sein. Doch die Hoffnung sollte stets
bestehen, ein klein wenig dafür zu tun, dass diese Situation nicht auch noch schlimmer
wird, da sie von immer mehr Menschen durch INTOLERANZ mitgetragen wird. Der erste
Schritt in die richtige Richtung ist, die Spur im Sand auf sich selbst zu übertragen
und an der Abarbeitung des Fragezeichens zu arbeiten. Dies gibt der Roman "Tea-Bag"
dem Leser mit.
Wenngleich die Satire auf den Literaturbetrieb nur in Ansätzen
vorhanden ist, und auch die sonstigen Komponenten, die einen humoristischen Grundtenor
aufweisen sollten, kaum die Lachmuskeln reizen können, handelt es sich bei "Tea-Bag"
um eine rundum gelungene Erzählung, die einen spezifischen Eindruck im Leser hinterlassen
mag, insofern er sich auf die kurvenreiche Strecke zwischen den Kulturen einlässt.
(Jürgen Heimlich; 01/2003)
Henning Mankell: "TEA-BAG"
Zsolnay, 2003. 384
Seiten.
ISBN 3-552-05220-8.
ca. EUR 23,50.
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