Henning Mankell: "Die italienischen Schuhe"
Das
Schreibuniversum von Henning Mankell ist auf zwei Kontinenten
beheimatet, womit er als Autor zweifellos eine besondere Stellung
einnimmt. Seine Darstellungen afrikanischer Lebenswelten und die meist
ausgezeichneten Fälle des Kommissars Wallander
ergänzen sich auf kongeniale Weise. Der Leser geht gerne mit
auf eine Reise in für ihn unbekannte Gebiete.
Mit "Die italienischen Schuhe" legte Henning Mankell einen Roman vor, der ein völlig
anderes "Strickmuster" erkennen lässt. Da es sich weder
um ein Kinder- oder Jugendbuch noch um ein Theaterstück
handelt, wird der Kenner von Mankells Schriften mit einem - vielleicht
einmaligen - Thema konfrontiert, das einem Tauchgang in die seelischen
Abgründe des Hauptprotagonisten gleicht.
Dieser Fredrik Welin, Mitte 60, lebt seit zwölf Jahren nahezu
völlig isoliert von der Außenwelt auf einer kleinen
Insel in den Schären. Sein einziger
regelmäßiger Kontakt zu einem Menschen ist jener zu
dem hypochondrischen Postboten Jansson, dem er als ehemaliger Chirurg
nur selten eine ärztliche Hilfestellung zuteil werden
lässt. Überhaupt erscheint der einsame Mann, der sich
jeden Tag ein Loch ins Eis schlägt, um dann ins Wasser
hinabzusteigen und sich richtig fühlen zu können,
wenig sympathisch. Der Roman ist aus der Sicht von Welin geschrieben,
wodurch es dem Leser möglich wird, einem merkwürdigen
Kauz zu begegnen, dessen Leben keinerlei Sinn zu ergeben scheint. Damit
er wenigstens das eine oder andere Lebensmuster in seine Erinnerung
einschreiben kann, bedient sich Welin eines sogenannten Log-Buches, das
mit einem Tagebuch - oder für die Internet-Generation von
gestern und heute einem Blog - nichts gemein hat.
Es sind immer nur wenige Worte, die auf Papier geschrieben werden. Oft
Winzigkeiten, nicht selten bedeutungslose Einzelheiten.
Warum der Protagonist auf diesem einsamen Eiland gelandet ist, kommt
relativ rasch zur Sprache. Bald schon erlebt er eine
Überraschung, die sein harmloses Leben durcheinander bringt.
Eine Frau steht plötzlich da, und er muss, ob er will oder
nicht, anerkennen, dass ihn seine Jugendliebe aufgesucht hat, weil er
ihr noch etwas schuldig ist. Harriet ist schwer krank und hat nicht
mehr lange zu leben. Fredrik kann dies einer Information entnehmen, die
er in ihren persönlichen Sachen aufgespürt hat.
Überhaupt hat Welin stets gerne spioniert, an Wänden
gelauscht, vertrauliche Gespräche zwischen Menschen verfolgt.
Dieser Mann ist keine sympathische Figur, woran sich bis zum Ende des
Romans hin nichts ändert. Dennoch ist es spannend, seiner
kleinen "Odyssee" zu folgen, die ihn seiner Tochter nahebringt, von
deren Existenz er fast vierzig Jahre lang nichts wusste, ihn mit jener
Frau in Kontakt setzt, für deren Schicksal er allein
verantwortlich war und ist, eine Begegnung mit einer jungen Frau
erleben lässt, die sein Leben nachhaltig verstört,
und Harriet in ihren letzten Tagen, welche von extremem Schmerz
erfüllt sind, begleitet.
Wer den Versuch machen mag, sich mit Welin zu identifizieren, der wird
daran scheitern. Vielmehr scheint sich in dieser Figur eine Lebenswelt
zu spiegeln, die uns alle angeht. Darin tauchen jene Fragen auf, welche
jeder Mensch für sich zu beantworten suchen muss.
Der Roman handelt hauptsächlich von einem Thema, das gerne
verdrängt wird: dem Tod.
Welin selbst lebt auf seiner kleinen
Insel wie ein lebender Toter, ehe
seine sterbenskranke Jugendliebe vor ihm steht. Er wird von den
Ereignissen nicht geläutert, und erst ganz am Schluss
könnte er nach vielen buchstäblichen
Tiefschlägen soweit diszipliniert worden sein, dass er sein
Leben aus einer etwas anderen Perspektive zu sehen vermag. Fredrik
Welin ist wie ein Blatt, das von den Menschen, die ihm begegnen,
beschrieben wird. Für sich selbst hat er mit dem Leben
abgeschlossen. Obzwar er einen Charakter abgibt, der es
unmöglich macht, mit ihm mitzuleiden, ist er manchmal
bemitleidenswert. Ein Mensch, dessen Leben irgendwann auf eine Bahn
geraten ist, die er selbst nicht mehr steuern konnte. Als seine
Jugendliebe stirbt, ist es so, als erlöschten
plötzlich alle sichtbaren Sterne, und er wäre bereit,
hinter das Leben zu schauen, das er jahrzehntelang vor sich selbst
versteckt hat.
Seine Tochter Louise ist eine schrullige Person, die ihrem Vater lange
nicht verzeihen kann, dass sie ihn erst so spät kennengelernt
hat. Sie lebt in einem Wald weitab der Zivilisation, was sie
- ohne es lange Zeit zu wissen - mit ihrem Vater verbindet. Agnes, die
Frau, für deren Schicksal er verantwortlich ist, beherbergt
Jugendliche, die als Flüchtlinge im luftleeren Raum schweben
mögen, und denen jegliche Orientierung fehlt. Hier besteht
auch die einzige kleine Reminiszenz an eine Thematik, die Mankell in
einigen Büchern beschrieben hat.
Besonders berührend ist jener Teil des Romans, wo es um den
letzten Wunsch Harriets geht. Angesichts des Todes wird jeder
Augenblick kostbar, und Menschen sprengen die Ketten ihrer
vorgetäuschten Existenz. Es dringt eine Wahrheit ans Licht,
die sonst nicht einmal erahnbar ist. Fredrik Welin ist für
einige Stunden Teil eines Universums, das er zuvor nicht kennenlernen
wollte.
"Die italienischen Schuhe" sind einerseits real, andererseits aber eine
Chiffre, die jeder Leser für sich zu decodieren suchen muss.
Henning Mankell hat einen Roman geschrieben, der sehr leise
Töne
anschlägt und ein menschliches Schicksal von einer ungewohnten
Warte aus abbildet. Kein Mensch kann nur aus sich allein leben.
Er
braucht Menschen, mit denen er sich verständigen und das Leben
teilen mag. Diese Menschen, welche sein Weltbild weitgehend
prägen, können das Mosaik nicht lösen, das
in jeden Menschen eingestickt ist. Doch durch den Tod findet eine
Annäherung auch zwischen den noch lebenden
Angehörigen des Verstorbenen statt. Diese Botschaft ist
universell und kennzeichnend für diesen empfehlenswerten
Roman, der das Verborgene, das Geheimnisvolle zum Vorschein bringt.
Mankell hat damit gewohnte Pfade verlassen und seinen Lesern eine
beeindruckende Geschichte beschert.
(Jürgen Heimlich; 08/2007)
Henning
Mankell: "Die italienischen Schuhe"
Übersetzt aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Zsolnay, 2007. 365 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 368 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen