Henning Mankell: "Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt"

"In Schweden oder in einem Land wie Uganda an Aids erkrankt zu sein sind zwei völlig verschiedene Dinge. Das gilt auf allen Gebieten. Auch was die Pflege betrifft. Auch was die Schmerzen betrifft." (Henning Mankell)


Der afrikanische Kontinent ist von AIDS extrem stark betroffen. Während es in reichen Ländern möglich ist, allerlei Therapien anzubieten, die den betroffenen Menschen mehr oder weniger helfen mögen, kann davon in Entwicklungsländern keine Rede sein. Die Pharmaindustrie bestimmt, zu welchem Preis Medikamente angeboten werden. Eine Frau, die in Uganda lebt und keinen reichen Mann an ihrer Seite hat, muss für Medikamente, die zur Bekämpfung von AIDS notwendig sind, das Doppelte ihres Monatslohns hergeben. Nur die wenigsten Menschen auf dem afrikanischen Kontinent sind derart privilegiert, sich die hohen Kosten einer AIDS-Therapie leisten zu können.

In punkto Aufklärung versucht der Westen nach wie vor "Missionsarbeit" zu leisten. Es wird so vorgegangen, als gäbe es nur einen Zugang, wie Aufklärung verstanden werden kann. Dieser Denkfehler ist mit ein Grund, warum eine hohe Anzahl an Menschen aus afrikanischen Ländern nicht dazu in der Lage ist, die "Hilfestellung" anzunehmen und daraus persönliche Konsequenzen zu ziehen. Wenn die Anwendung eines Kondoms wie eine "Zauberei" dargestellt wird, kann davon ausgegangen werden, dass kein Afrikaner den Unsinn verstehen mag oder kann. Die Vorurteile gegen Menschen afrikanischer Prägung sind an der Selbstverständlichkeit ablesbar, mit der in Bezug auf AIDS argumentiert wird: "Die Afrikaner kriegen deshalb so leicht AIDS, weil sie nicht aufpassen, sich nicht schützen, und rücksichtslos Sexualpartner anstecken." Tja, so ein Vorurteil kann nur deswegen bestehen, weil überhaupt keine Vorstellung davon existiert, WARUM die Afrikaner über die Gefahrenherde zu wenig Bescheid wissen bzw. die Möglichkeiten des Schutzes vor AIDS nicht zur Genüge kennen! Und das hängt mit jener Theatralik zusammen, mit der Aufklärungsarbeit geleistet wird. Wird ein Kondom über ein paar Finger gestülpt, und dies so "verkauft", als wäre es der Weisheit letzter Schluss, darf sich kein Nicht-Afrikaner wundern, dass seitens der Afrikaner angenommen wird, ein über mehrere Finger gestülptes Kondom würde vor Geschlechtskrankheiten bzw. AIDS schützen, wenn ein Sexualakt stattfindet. Klingt irre; ist aber für die aufklärerischen Begebenheiten nicht unüblich.

AIDS hat Afrika buchstäblich überschwemmt. Mindestens zwei Drittel der AIDS-Infizierten leben auf dem afrikanischen Kontinent. Die Zahl der infizierten und erkrankten Menschen liegt weltweit bei ca. 40 Millionen. Mindestens 28 Millionen davon sind Afrikaner.

Die Situation in Afrika ist erschreckend. Es gibt mittlerweile mehrere Millionen Kinder, die zu Waisen wurden, weil ihre Eltern an AIDS verstarben. Diese Kinder wachsen bei Verwandten oder aber in Gemeinschaft mit älteren Geschwistern auf, und wissen überhaupt nichts von ihren Wurzeln. Die Eltern sind oft nicht mal der Schatten einer Erinnerung.

Die Vereinigung Plan Deutschland International hat angesichts der vielen AIDS-Waisen ein bemerkenswertes Projekt ins Leben gerufen: MEMORY BOOKS.

Von AIDS betroffene Mütter oder Väter (manchmal beide) schreiben ihre Erinnerungen für die Kinder auf, sodass nach ihrem Tod ihre Nachkommen einen Einblick in ihre Wurzeln bekommen. Sie sind dann nicht mehr abgeschnitten von der Welt, sondern können sich als Teil einer Familie sehen, die viel zu früh zerbrochen ist. Für die persönliche Entwicklung der Kinder ist dies von wesentlicher Bedeutung, da auf diese Weise ein unsichtbarer Kontakt zwischen ihnen und ihren Eltern geschlossen ist, der über den Tod hinausreicht.

Freilich verrichtet Plan Deutschland International auch Aufklärungsarbeit und versucht, vielen AIDS-Waisen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Wer sich näher über diese Organisation informieren oder auch spenden will, sei auf https://www.plan-deutschland.de/ verwiesen. Da es keine österreichische "Zweigstelle" gibt, bietet sich hier die Gelegenheit, AIDS-Waisen finanziell zu unterstützen. Es handelt sich schließlich um eine international agierende Organisation.

Henning Mankell hat dieses Thema ("Memory books") aufgegriffen und das Projekt von Plan in Uganda besucht. Sein Bericht handelt von den Erfahrungen und Erkenntnissen, die er in Uganda gemacht bzw. gezogen hat.

Der schwedische Autor besuchte u.a. eine Familie, in der die Mutter bereits in fortgeschrittenem Stadium an AIDS erkrankt war. Das "Memory book" der mittlerweile leider verstorbenen Frau ist in vorliegendem Buch enthalten.

Es ist sehr viel Wut aus der kleinen Erzählung ablesbar. Mankell schreibt einerseits von den Zuständen in Uganda; den vielen zerrissenen Familien; der Trauer und dem Tod, der dort immer unmittelbare Gegenwart ist. Manche Menschen verzweifeln über der Krankheit, und wollen am liebsten gleich sterben; andere wollen es nicht wahrhaben, dass sie an AIDS erkrankt sind; wieder andere tun alles, um ihren Kindern später die Grundpfeiler eines glücklichen Lebens mitgeben zu können. Andererseits schreibt er von seinem eigenen Bezug zu AIDS, von Ängsten, die ihn diesbezüglich beschleichen; von Todesängsten in anderem Zusammenhang, welche er schon ausstehen musste, und von der Hilflosigkeit angesichts einer unüberwindbaren, todbringenden Krankheit.

Bei der nunmehr in gedruckter Form vorliegenden Geschichte handelt es sich um eine Mischung aus Essay, Erzählung und Tatsachenbericht. Es sind zweifelsfrei die persönlichsten Zeilen, die Henning Mankell bislang veröffentlicht hat. Der Leser lernt den Autor von einer völlig neuen Seite kennen, und wird sich am Ende der Geschichte die gleiche Frage stellen können wie Mankell: Wie sind meine persönlichen Erinnerungen bezüglich AIDS, und welche Ängste hatte ich bisher auszustehen?

Der Rezensent verzichtet darauf, auf Details aus dem Erfahrungsschatz des Autors einzugehen, da die Zeilen an das eigene Gewissen gemahnen mögen, und sich jeder Leser seinen eigenen Reim machen muss. Dies mag für Menschen, die sich für die Geschichte öffnen, ein wenig niederschmetternd sein, da es nahezu unmöglich ist, von den dargestellten Begebenheiten nicht betroffen zu sein.

Dies trifft ebenso auf das "Memory book" von Christine Aguga zu, das sie für ihre Tochter Everlyn Akoth geschrieben hat.

Mit dem Kauf dieses Buches unterstützen Sie Henning Mankells Kampf gegen AIDS in Afrika. Der Reingewinn geht an das AIDS-Projekt von Plan International.

(Jürgen Heimlich; 09/2004)


Henning Mankell: "Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt"
Gebundene Ausgabe:
Mit einem "Memory Book" von Christine Aguga und einem Nachwort von Ulla Schmidt.
Zsolnay, 2004. 144 Seiten.
ISBN 3-552-05297-6.
ca. EUR 13,30.
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Hörbuch (Lesung):
Der Hörverlag, 2004. 2 Audio-CDs.
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