Henning Mankell: "Kennedys Hirn"


Dieser Roman von Henning Mankell wird von zwei entscheidenden Faktoren beeinflusst: Dem Zufall und der Dunkelheit. Somit nähert sich der Rezensent über diese Schlagwörter der Geschichte an.

Zufall

Schon nach wenigen Seiten wird klar, welche immense Bedeutung der Zufall einnehmen kann. Die Hauptprotagonistin Louise Cantor, die nach dem scheinbaren Selbstmord ihres Sohnes eine lange Reise rund um den Erdball unternimmt, macht sich viele "Zufälle" zu Nutze, um die Hintergründe des Todes von Henrik zu durchschauen. Dabei spielen offene Schubladen, Notizzettel, ungeschützte Passwörter und nette Menschen wichtige Rollen. Stets zum richtigen Zeitpunkt kommt Louise der Zufall zu Hilfe, wenn es darum geht, ein Stückchen vorwärts zu gelangen. Das erinnert so ein bisschen an Computerspiele, wo der "Held" allerlei Ingredienzien einsammeln muss, ehe er die Lösung des Rätsels finden kann. Der "Zufall", wie er hier von Mankell definiert wird, ist zu glatt und holzschnittartig angelegt. Hinzu kommt, dass es Textpassagen im Roman gibt, welche direkt auf die "Zufälligkeiten" des Lebens verweisen. Es muss in diesem Zusammenhang auf einen Meister des Zufalls hingewiesen werden: Paul Auster. Der Unterschied zwischen den Romanen von Paul Auster und jenem von Henning Mankell liegt darin, dass die Protagonisten von Paul Auster nie von berechenbaren Zufällen profitieren, sondern im Gegenteil durch die unfassbarsten Zufälle in ein völlig neues Leben hinein "gebeamt" werden, von dem sie nie geglaubt hätten, dass dies möglich sei.

Freilich wird das Leben von Zufällen bestimmt, die manchmal bedeutungsschwanger als "Schicksal" interpretiert werden. Aber der Zufall ist nie ein Artefakt, der sich nachvollziehen oder gar berechnen lässt. Was Louise Cantor passiert, sind Zufälle, die den Charakter ihrer Suche nach der Wahrheit prägen. Die Struktur der Geschichte ist zu durchschaubar, zu offensichtlich. Der Zufall ist keine Überraschung, sondern ein Hilfsinstrument, um die Geschichte besser interpretieren zu können.

Dunkelheit
Henrik hat in der Dunkelheit, in der Realität unter der Oberfläche einer scheinbar "funktionierenden" Gesellschaft, dem Wahnsinn ins Antlitz gesehen. Letzten Endes wurde ihm dies zum Verhängnis. Die Dunkelheit verschluckt nicht alles. Wenn Louise Cantor als Archäologin nach verschütteten Relikten der Vergangenheit sucht, so findet sie nicht selten überraschende Dinge. Ähnlich mag es zugehen, wenn in den kranken Hirnen von Menschen mit Allmachtsfantasien "gestöbert" wird. Mankells Geschichte ist in erster Linie der Versuch einer Frau, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, die von sehr mächtigen Menschen geschickt verborgen wird. Wer weiß schon, was alles hinter den Spiegeln einer "entwickelten" oder "unterentwickelten" Gesellschaft passiert?

Henrik war fasziniert von Einrichtungen in Afrika, die AIDS-Kranken mögliche Heilung versprechen. Er hat in Mocambique inmitten von schwerkranken Menschen die Chance gesehen, dass diese weitverbreitete Krankheit eingedämmt werden kann. Doch er machte einen Schritt in die Dunkelheit hinein und wurde schließlich dem Gott der Macht geopfert. Er hat zuviel gesehen, was er nicht hätte sehen sollen. Das Dunkel darf nicht durchleuchtet werden.

Zufall und Dunkelheit prägen den Roman entscheidend. Der Zufall lässt ihn voranschreiten, wobei die reißbrettartige Skizzierung der entscheidenden Elemente wenig glaubwürdig ist. Die Dunkelheit ist so etwas wie ein Gegenpol, da sie nicht beeinflusst werden kann.

Der Rezensent hat diesen Roman zum Großteil zwischen den Zeilen gelesen. Das Holzschnittmuster und die AIDS-Dramatik sind merkwürdig miteinander verflochten. Also muss die wesentliche Dynamik aus dem Kontext hervorgehen, der mit diesen Elementen nichts zu tun hat. Somit wurden einige interessante Details aufgespürt, von denen jedoch nur wenige besprochen werden sollen. Der Leser wird für sich womöglich andere Erkenntnisse ableiten können, von denen hier nicht die Rede ist.

Es geht um Afrika, es geht um die Leiden und Qualen der Menschen auf diesem Kontinent. Es geht um Schweigen, um die Zinsspirale, an der die Menschen zugrunde gehen, es geht um Hunger, um Tod, um Herzlichkeit, um Musik, um Missbrauch, um Prostitution, um Trauer.

Es geht um die völlige Missachtung eines Kontinents, der von skrupellosen Diktatoren bestimmt ist, es geht um Korruption, um Macht, um Sklaverei, um die Ware Mensch, um AIDS.

Hans Pestalozzi, der mit seinem Buch "Auf die Bäume, ihr Affen" seinerzeit Furore machte, hat schon vor vielen Jahren im Rahmen eines Interviews gesagt, dass es den Menschen in Afrika nur deswegen so schlecht ginge, weil wir in den "entwickelten Ländern" so leben, wie wir es tun. Wäre der Wohlstand, an dem nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung teilhaben kann, auf die ganze Weltbevölkerung ausdehnbar? Keineswegs. Ohne die Wirtschaftsmacht der "entwickelten Länder", die nunmehr auch noch von der Globalisierung profitieren, könnte der gesamte Kontinent Afrika nicht derart unterdrückt und beherrscht werden. Viele Europäer finden es fantastisch, in Afrika Geschäfte zu machen, weil nur sie davon profitieren. Die Dunkelheit, der Mankell eine überdimensionale Bedeutung zuerkennt, ist überall in Afrika sichtbar. Der Kontinent wird zum Großteil für den wirtschaftlichen Aufschwung der industrialisierten Länder missbraucht. Besonders gut hat diese Tatsache Andreas Eschbach mit seinem Roman "Eine Billion Dollar" geschildert. Mankell zählt diese Dinge nicht explizit auf. Die Menschen sind durch ihr Verhalten verdächtig; es lässt sich aber nicht beweisen, ob sie krumme Geschäfte machen oder tatsächlich Entwicklungshilfe leisten.

Es sind also die unausgesprochenen Dinge, die den Charakter des vorliegenden Romans bestimmen. Mankell weiß ganz genau, wie es um Afrika bestellt ist. Doch er tut etwas Erstaunliches: Er lässt dem Leser viel Spielraum der Interpretation. Kann es wirklich sein, dass arme Menschen in Afrika derartig skrupellos von mächtigen Konzernen benutzt werden, um Medikamente, die gegen AIDS helfen könnten, zu erproben? Gibt es Menschenversuche in Afrika? Oder ist das alles nur eine Überzeichnung? Mankell schreibt in seinem Nachwort, dass die Geschichte fiktiv sei und er sie aus großem Zorn heraus verfasst habe. Mankell hält also nicht hinter dem Berg, dass er den Missbrauch eines ganzen Kontinents nicht so einfach zu schlucken bereit ist. Er lebt die Hälfte des Jahres in Mocambique und kennt die Menschen dort sehr gut. Es ist ihm ein Anliegen, auf den Wahnsinn hinzuweisen, durch den diese Welt ökonomisch in zwei Teile gespalten wird. Der kleinere Teil der Menschen lebt im Wohlstand, während der größere Teil diesen Wohlstand nur finanziert; jedoch nichts davon hat. Dies mag eine einfache Wahrheit sein, doch sie lässt sich leicht belegen. Die Globalisierung hat die Schere zwischen Arm und Reich ungeheuerlich erweitert. Und mittlerweile wird dieses Prinzip längst schon auf lokale Prinzipien angewendet, wenn etwa die ökonomische Diskrepanz reicher Vorstandsmitglieder multinationaler Unternehmen und Bezieher von Hartz IV in Deutschland als Beispiel Anwendung finden mag.

Afrika wird von AIDS überzogen, weil es der Pharmaindustrie völlig egal ist, wie die Situation dort eskaliert. Henning Mankell deutet auch auf die sogenannten "Memory-books" hin, welche in seinem bislang persönlichsten Buch "Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt" historisch und definitiv dargestellt sind. In diesem Sinne kann "Kennedys Hirn" als Fortsetzung des Irrsinns verstanden werden, durch den unzählige Menschen, die auf dem afrikanischen Kontinent leben, als "Menschen zweiter Klasse" zu Tode kommen.

Der Roman kann aufrütteln, weil er den Gedanken des Lesers viel Raum gibt. Die Geschichte selbst ist beispielhaft für die zahlreichen Ungerechtigkeiten, die den vielfach unter schrecklichen Lebensbedingungen verharrenden Afrikanern angetan werden. Die Dunkelheit verschluckt diese Menschen, so wie Henrik geopfert werden musste, weil er einen kleinen Blick in die unterirdischen Verließe des Wahnsinns wagte.

Einer der Träger der Machtspirale in der Geschichte nennt sich Christian Holloway. Irgendwie bezeichnend, dass er sich diesen Namen verliehen hat. Der "heilige Weg des Christen" führt in den Untergang der Afrikaner. Da könnte eine Kritik an den Missionaren dahinterstecken. Tatsächlich aber geht es vielmehr darum, dass dieser "heilige Weg" nichts Anderes ist als jener der Macht und des Geldes. In einer derartigen Welt gibt es nur mehr Götzen und einen perversen Atheismus, der alles zu legitimieren scheint. Diesem Wahnsinn will die Protagonistin Louise Cantor schließlich die Stirn bieten. Ein Vorhaben, das nur schwerlich gelingen kann. Nicht nur Globalisierungsgegner wissen um die Unüberwindbarkeit der Strukturen, welche diese Welt bestimmen. Politik ist zum Wasserträger der Wirtschaft verkommen, und Geld ist das einzige Mittel, das überall irgendeinen Wert zuerkannt bekommt.

Trotz der Fragwürdigkeit der Handlung in Bezug auf den Zufall, und somit auch der Struktur der Geschichte, ist dieser Roman als beispielgebend für den Ist-Zustand der Welt, auf der wir Menschen leben, bezeichenbar. Mankell hat ein Streichholz in der Dunkelheit entzündet, und der Leser muss sich der Wahrheit stellen, die für einen Augenblick sichtbar ist. Der überbordende Wahnsinn steckt aber, wie beschrieben, zwischen den Zeilen verborgen.

(Jürgen Heimlich; 01/2006)


Henning Mankell: "Kennedys Hirn"
Übersetzt von Wolfgang Butt.
Zsolnay, 2006. 398 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Hörbuch:
der hörverlag, 2006. 4 CDs. 
Gelesen von Axel Milberg.
Hörbuch bei amazon.de bestellen

Ein weiteres Buch des Autors:

"Daisy Sisters"

Im Kriegssommer 1941 macht Elna aus Sandviken mit ihrer südschwedischen Brieffreundin eine Radtour zur norwegischen Grenze. Die "Daisy Sisters", wie die Mädchen sich nach us-amerikanischem Vorbild nennen, lernen zwei schwedische Soldaten kennen, und die naive Elna, die keinen Alkohol verträgt, wird ungewollt schwanger. Den Vater des Kindes wird sie nie wiedersehen, ihre Tochter Eivor zieht sie nur widerwillig auf. Eivor ihrerseits versucht schon als Halbwüchsige mit einem jungen Kriminellen durchzubrennen, aber das Abenteuer geht auf tragische Weise schief. Fern von Mutter und Stiefvater will sie sich nun eine eigene Existenz als Schneiderin aufbauen. Doch es kommt anders als geplant ...
Ein bewegender Generationenroman aus Schweden über drei Frauen, die aus ihrem engen sozialen Milieu und ihrer vorgezeichneten Rolle ausbrechen wollen. (Zsolnay)
Buch bei amazon.de bestellen