Asfa-Wossen Asserate: "Manieren"

Der 226. Band der ANDEREN BIBLIOTHEK


Ursprung, historische Entwicklung und moderne Ausprägung gesellschaftlicher Verhaltensregeln in Europa

Benimmbücher, Neuentwicklungen des berühmten Knigge für alle Lebenslagen, haben Hochkonjunktur. Angesichts des Titels möchte man dem dtv zunächst unterstellen, er wolle sich mit "Manieren" ein Stück dieses Kuchens sichern. Doch schon bei der Lektüre der ersten Seiten zeigt sich, dass die Intention des Autors in eine andere Richtung geht.
Der Autor ist ein Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers. Er kam im Zuge des Umsturzes in seiner Heimat als junger Mann nach Deutschland - und blieb. Im Grunde war er prädestiniert, ein Buch über die europäischen Manieren (mit Deutschland und Österreich als Schwerpunkten) zu schreiben: Als in die gehobene Gesellschaft eingebundener Kosmopolit und, wie man aus jeder Seite seines Buchs lesen kann, aufmerksamer und interessierter Beobachter kann er auf die notwendigen Kenntnisse zurückgreifen; als Mensch, der ursprünglich aus einem ganz anderen Kulturkreis stammt und sich bewusst für das Leben in Westeuropa entschieden hat, betrachtet er die Manieren in seiner Wahlheimat mit zumeist wohlwollender, aber immer ausreichend sachlicher Distanz.

Asserate stellt sich eingangs in einer sympathischen kurzen Autobiografie vor. Ohne Selbstbeweihräucherung und Sentimentalität erläutert er seine Verbundenheit mit Afrika und Europa. Es folgt ein historischer Abriss darüber, wer die als "Manieren" bezeichneten Verhaltensnormen festgelegt hat, für wen sie verbindlich waren und sind, und wie sie sich verändert haben. Weitere Kapitel widmen sich schließlich unterschiedlichen Situationen, den in verschiedenen Epochen und Ländern für sie gültigen Manieren und häufig ihren Zerfall in neuerer und neuester Zeit. Dazu gehören zunächst Definitionen von Begriffen wie "Ehre", "Dame" und "Herr", deren Entwicklung im Zuge geschichtlicher Umwälzungen für heutige Verhaltensregeln durchaus bedeutsam ist. Die Kapitelüberschriften, etwa "Körperliche Haltung & Seelische Contenance", "Das Malheur", "Lob des Spießers", "Die Untergebenen" oder "Das Loben" muten auf den ersten Blick häufig altbacken an und haben tatsächlich wenig mit den aktuellen "Büro-Knigges" und artverwandten Bändchen aus dem Ratgeber-Sektor zu tun. Asserate zeigt zwar durchaus neue Tendenzen auf, aber die von ihm dargestellten Manieren sind grundsätzlich zeitlos und ein Spiegel der europäischen Kultur, vielfach auch speziell jener der deutschsprachigen Länder. Hält man sich an die von ihm propagierten bürgerlichen Verhaltensnormen, so kann man im Grunde nichts falsch machen. Wie Asserate beobachtet, blieb die Abwendung von allem als bürgerlich Erachteten nach 1968 in ihrer radikalen Ausprägung nicht lange erhalten. Insgesamt lässt sich eben nicht leugnen, dass seit vielen Generationen bewährte Manieren hilfreich sind, zwischenmenschliche Konflikte zu vermeiden und das in vielen Situationen notwendige freundliche Miteinander zu erleichtern, auch wenn sie die weithin erwünschte Gleichheit aller Menschen leugnen und kleine Lügen oder doch Halbwahrheiten erfordern.

Asfa-Wossen Asserate hat dieses an keiner Stelle trockene oder gar langweilige Buch mit einem ordentlichen Schuss feinem Humor verfasst. Der Stil ist trotz gelegentlicher Anwandlungen zur Gespreiztheit und einiger eigenwilliger Anglizismen zumeist angenehm sachlich. Und wenn der Leser dank der gewogenen Betrachtung eines afrikanischstämmigen Autors manchen Aspekt der Bürgerlichkeit des deutschsprachigen Kulturraumes für sich neu entdeckt, wo er doch eigentlich "nur" einen aktualisierten Knigge erwartete - ist das etwa negativ zu werten?

(Regina Károlyi; 10/2005)


Asfa-Wossen Asserate: "Manieren"
Gebundene Ausgabe:
Eichborn, 2003. 392 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2005. 398 Seiten.
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Hörbuchausgabe:
Eichborn, 2005. 400 Seiten.
Gelesen von Gunter Schloß.
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Weitere Buchtipps:

"'Obeid-e Zâkâni, Die Sitten der Vornehmen' Gesammelte Werke des persischen Satirikers"

Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Joachim Wohlleben.
'Obeid-e Zâkâni, Persiens größter Satiriker, geboren ungefähr 1305 im Nordwesten des Landes, gestorben 1371 in Schiras, wo er wie der eine Generation jüngere Hafis fast sein ganzes Leben verbrachte.
Sonst weiß man nur das Wenige von ihm, was sich seiner Dichtung entnehmen lässt. Die unruhige Zeit nach dem Mongolensturm (1258 Eroberung von Bagdad) hat seine Dichtung geprägt, deutlich wird das besonders an seinem Hauptwerk, das diese Sammlung zu Recht im Titel führt:
"Die Sitten der Vornehmen" erweisen den Sozial-Kritiker als Ausnahmetalent - als Satiriker ist er einzigartig. Aber Zâkânis Produktion ist von erstaunlicher Breite. Er ist ein Vollblutliterat, in allen Gattungen meisterlich, realistisch mit mystischen Zügen, elegant, versiert, souverän, und er ist ein Experimentator, ein innovativer Traditionalist.
In Persien wird Zâkâni zwar anerkannt, jedoch mit Einschränkungen. Auch die europäische Literaturwissenschaft verkennt seinen Rang nicht, nahm jedoch Anstoß an seiner Neigung zur Obszönität. Die hier vorgelegte Sammlung ist durch diese Rezeptionsblockade nicht mehr behindert worden, die Übersetzung ist komplett und zugleich die erste vollständige. (Königshausen & Neumann)
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Karl-Heinz Göttert: "Zeiten und Sitten. Eine Geschichte des Anstands"
Anstand, Manieren und Höflichkeit haben gerade wieder Konjunktur. Aber mit dem Anstand ist das so ein Problem: Er lässt sich einfach nicht absolut begründen. Anders als Recht und Moral bleibt er wandelbar, ähnlich wie die Mode gibt er dem Zusammenleben immer wieder neu eine Form. Karl-Heinz Göttert erzählt in der ersten Geschichte des Anstands - von der Antike bis heute - auf unterhaltsame und lehrreiche Weise von diesem wandelbaren Miteinander und plädiert für formbewusste Toleranz. (Reclam)
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Leseprobe: 

WARUM MANIEREN?


Mit dem Gedanken, eine Betrachtung über deutsche und europäische Manieren zu schreiben, gehe ich schon eine Weile umher. Ich hatte mir sogar schon einen Zettelkasten angeschafft, in dem ich nach dem Vorbild der berühmten japanischen Hofdame Sei Shonagon zum Beispiel zusammentrug: "Was häßlich ist." Was war nach meinem Dafürhalten häßlich?

"Fremden Leuten ins Gesicht fassen. Das Fernsehen laufen lassen, wenn Besucher den Raum betreten. Rotweingläser zu voll schenken. Über sein Gewicht sprechen. In der Brusttasche ein Taschentuch aus demselben Stoff wie die Krawatte tragen. Sich wundern. Medizinische Ratschläge geben: Wußten Sie nicht, daß so viel Salz gesundheitsschädlich ist? Sich im Theater mit dem Rücken zu den Sitzenden durch die Stuhlreihe zwängen. Mit nacktem Oberkörper am Eßtisch sitzen. Fremde Leute beim Abendessen fragen: Glauben Sie an Gott?"

Es wurde mir sehr schnell klar, daß diese Liste, so lange sie sich fortsetzen ließe, kein hilfreiches Konzept für ein Buch über die Manieren, wie ich es plante, barg. Ich wollte mich ja nicht als arbiter elegantiarum betätigen. Nichts wäre in der gegenwärtigen Verfassung der deutschen Gesellschaft lächerlicher, nichts vergeblicher. Ich habe deshalb auch keinen der vielen Ratgeber gelesen, die sich mit den Manieren befassen, obwohl viele davon gewiß sehr lesenswert sind. Die Leute fühlen offenbar ein gewisses Bedürfnis, sich über die Regeln der Verhaltensweisen in Gesellschaft zu unterrichten.
Ist dieses Interesse nicht verblüffend?

DIE BEGRÜSSUNG

"Ich lege mich Ihnen zu Füßen, weil diese doch immer ein reinlicherer Ort sind als Ihr Herz."
Jean Paul

Einen besonderen Reiz besitzen für mich die Bücher, die die Leute in ihre Gästezimmer stellen: alles ausrangierte Werke, die sie in ihrer Bibliothek nicht haben wollen, die aber unerwartete Funde ermöglichen.
Vor einer Weile schlief ich in einem Zimmer, in dem der alte Meyer in sechsundzwanzig Bänden meinen Schlaf bewachen sollte. Zwischen "Begriff" und "Bégeule - sich zierendes Frauenzimmer" stieß ich auf das Stichwort "Begrüßungen".

Ich lese gern, was man in Europa über Afrika zu wissen meint, und war glücklich, gleich auch Äthiopien, hier natürlich noch Abessinien benannt, erwähnt zu finden.
"Bei den meisten afrikanischen Völkern sind die Begrüßungsweisen durchaus sklavisch", las ich in diesem Artikel aus dem Jahre 1896, der sich auf das Werk Soziologie von Herbert Spencer stützte. "Die Abessinier fallen auf das Knie und küssen die Erde." Richtig, der Kaiser wurde so begrüßt, und ich selbst habe ihn viele Male so begrüßt, und es war stets unser äußerstes Vergnügen, wenn ein neuer Botschafter aus einem modernen westlichen Land oder auch ein Kommunist aus der Sowjetunion sein Beglaubigungsschreiben beim Kaiser überreichen mußte und vom Palastminister und seinem Staatssekretär in die Mitte genommen wurde, die der stets etwas widerspenstigen Exzellenz dabei halfen, den Kopf ganz hinunter bis fast auf den Boden zu bringen und danach wieder auf die Beine zu kommen.
So "sklavisch" ist es in Europa natürlich niemals zugegangen. Ein Wiener Freund, der Sohn eines kaiserlichen Hofbeamten, erzählte mir, daß ein greiser Kammerdiener einmal vor Kaiser Franz Joseph das Tablett mit dem Frühstück fallen ließ. "Bitt um Vergebung, lege mich zu Füßen Ew. Majestät!" sagte der bekümmerte alte Mann, es war die vorgeschriebene Anrede. "Bitte nicht auch das noch", antwortete der Kaiser, "da liegt ja schon die Leberknödelsuppe."

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