Andreï Makine: "Die Frau vom Weißen Meer"
Die
Unmöglichkeit der idealisierten Liebe
Ein junger Schriftsteller aus Leningrad reist in den Siebziger Jahren
in ein kleines Dorf am Weißen Meer, in der Nähe von
Archangelsk, um sich für eine Reportage über die
Sitten und Gebräuche in dieser Gegend zu informieren.
Schon bei seiner Ankunft begegnet er einer
außergewöhnlichen Frau, die trotz ihrer
sechsundvierzig Jahre augenblicklich eine intensive Faszination auf ihn
ausübt. Er erfährt, dass sie Vera heißt,
als Grundschullehrerin im Nachbardorf unterrichtet und allein lebt: Sie
wartet seit dreißig Jahren auf ihren Verlobten, der in den
letzten Kriegstagen noch in den Kampf geschickt wurde, und von dem ihr
nichts blieb als eine Vermisstenmeldung.
Vera ist in dem kleinen Dorf geblieben, in dem nur noch uralte Frauen
leben, denen sie ihre letzten Jahre erleichtert. Manchmal finden
Bekannte in einem scheinbar verlassenen Dorf eine einzige alte Frau,
und Vera holt solche Frauen behutsam in ihr Dorf, um ihnen Hilfe und
bessere Versorgung angedeihen zu lassen.
Der Protagonist freundet sich mit Vera an und versucht linkisch, ihre
Liebe zu gewinnen, obwohl er im Grunde weiß, dass ihm das
nicht gelingen kann. Zu gern möchte er Gerüchten
glauben, denen zufolge Vera in der Stadt wahllos sexuelle
Verhältnisse unterhält, denn ihm ist wie allen
anderen die Treue der attraktiven Frau zu einem Phantom unheimlich.
Und dann kommt es doch zu einer behutsamen, in Ansätzen
erotischen Annäherung, die durch eine Nachbarin
gestört wird. Vera bricht unvermittelt nach Archangelsk auf.
Als sie zurückkehrt, wirkt sie verstört, und das
Blatt wendet sich.
Die starke Anziehung einer reifen, geheimnisumwitterten Frau auf einen
jungen Mann steht im Zentrum dieses Romans und seiner Handlung.
Behutsam entwickelt der Autor das Bild einer einsamen
Persönlichkeit, die nirgendwo hinzugehören scheint,
deren Intellekt in der ländlichen Welt deplatziert wirkt,
während die Schnelllebigkeit der Stadt nicht zu einer Frau
passt, die ihr ganzes Leben als Erwachsene mit dem
Warten auf einen
Mann verbringt, von dem sie im Grunde genau weiß, dass er
nicht zu ihr zurückkommen wird. Und auch ihre Umgebung, mit
Ausnahme der von ihr selbstlos betreuten alten Frauen, kommt mit ihr
nicht zurecht: Da Bekannte aus der Stadt es nicht für
möglich halten, dass Vera tatsächlich wie eine Nonne
auf den Verlobten wartet, sind sie sicher, dass sie sich bei ihren
Besuchen in Archangelsk das eine oder andere
Abenteuer gönnt.
Und auch der Protagonist stellt bereitwillig - und etwas
eifersüchtig - entsprechende Beobachtungen an in der
unterschwelligen Hoffnung, die Heilige möge doch nur eine Frau
mit ganz normalen Bedürfnissen sein.
Und so ist auch die Liebe in Makines Roman geprägt von einer
tiefen Zwiespältigkeit: Einerseits gehen der Protagonist und
seine neuen Freunde aus Archangelsk keiner Gelegenheit zu einer
schnellen, unverbindlichen sexuellen Beziehung aus dem Wege,
andererseits wünschen sie sich mehr oder weniger heimlich die
Erfahrung einer Liebe in der Art, wie sie Vera offensichtlich spenden
könnte, treu und rein; denn sind all die gehässigen
Gerüchte am Ende nicht doch erlogen? Der Wunsch nach Poesie
wird durch grobe Sprüche über die Frauen
überspielt.
Nimmt man die düstere, Einsamkeit ausstrahlende Umgebung
hinzu, jene Dörfer mit einzelnen, hartnäckig
zurückgebliebenen Greisinnen und einer rauen Landschaft, so
erhält dieser Roman eine eigenartig melancholische Stimmung,
die, müsste man sie abbilden, am besten in dunklen
Grauschattierungen wiedergegeben würde.
Makine ist mit diesem Roman ein zauberhaftes, still-schönes
Kunstwerk gelungen, das vom Spannungsfeld zwischen Ideal und
Realität, von der so genannten wahren Liebe und ihrem faden
Abklatsch in alltäglichen Kurzbeziehungen lebt.
(Regina Károlyi; 05/2007)
Andreï
Makine: "Die Frau vom Weißen Meer"
(Originaltitel "La femme qui attendait")
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine
Müller.
Hoffmann und Campe, 2007. 190 Seiten.
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