Evelyne Bloch-Dano: "Madame Proust"
Beschrieben
- erzählt - nachvollzogen
Die sich hier offenbarende Literaturwissenschaftlerin und
Sachbuchautorin erhielt für das vorliegende Buch (im Original
2004 in Frankreich erschienen, hier übersetzt von Eliane
Hagedorn und Barbara Reitz) den "Prix Renaudot". Der Band handelt von
Prousts Mutter Jeanne Proust, geborene Weil, Tochter einer
bürgerlich-jüdischen Fabrikantenfamilie, verheiratet
mit dem erfolgreichen Arzt Adrien Proust: "Sie war die wichtigste Frau
in seinem Leben, sie kümmerte sich zeitlebens um den
kränklichen Sohn und war stets die erste Leserin seiner Werke"
(vgl. Rückseite). Bloch-Dano führt uns gleichzeitig
mit großer Textkenntnis durch Prousts Werk.
Marcel
Proust (1871-1922) litt seit seinem zehnten Lebensjahr an
Asthma, dennoch meldete er sich 1889 freiwillig zum
Militärdienst, begann aber nach einem Jahr ein Jurastudium,
das er ohne Abschluss beendet. Im Jahre 1896 erscheint sein erstes
Buch, 1897 duelliert er sich mit einem Kritiker, 1903 stirbt Prousts
Vater, 1905 seine Mutter. Was einmal eines der anerkanntesten
Romanwerke des 20. Jahrhunderts werden sollte, wurde anfangs von den
Verlagen abgelehnt - Proust ließ den ersten Band auf eigene
Kosten drucken - erst 1916 gewinnt er den Verlag Gallimard für
sein Projekt - bereits 1919 erhält er für den zweiten
Band der 'Recherche' den höchsten französischen
Literaturpreis, den "Prix Goncourt". Im März 1922 beginnt
Proust einen Briefwechsel mit dem Romanisten Ernst Robert Curtius, der
als einer der ersten Prousts Bedeutung für die moderne
Literatur begreift. Als Ritter der Ehrenlegion wird Proust im November
1922 mit militärischen Ehren beigesetzt.
Der äußerliche Rahmen des Hauptwerks 'A la recherche
du temps perdu' (1913/27) ist autobiografisch, geht Band für
Band die wesentlichen Stationen von Prousts Leben nach.
Charakteristisch sind die Präzision und Differenziertheit in
der Beschreibung von Dingen, Wahrnehmungen und Empfindungen. Neben
Curtius haben Benjamin,
Rilke
und Hofmannsthal den Roman im
deutschsprachigen Raum bekannt gemacht. Noch heute ist die von Adorno
angeregte Neuübersetzung durch Eva Rechel-Mertens (1957)
gültig.
Das vorliegende Buch vermittelt uns die besondere Mutter-Sohn-Beziehung
in drei Teilen. Bloch-Dano erzählt im wahrsten Sinne des
Wortes die Lebensgeschichte der Jeanne Proust - hier begegnen sich ein
bisweilen fast schon trivialer Ton und wissenschaftliche Akribie.
Einige Monate nach dem Tod der Mutter schrieb Proust: "Unser ganzes
Leben war ein einziges Training, das sie mich hat durchlaufen lassen
für den Tag, an dem sie mich verlassen würde."
Jedenfalls erfahren wir über Jeanne in vielen geschilderten
Szenen, dass sie den Haushalt streng zusammenhielt, das Familienleben
mit gewissen Ritualen pflegte und auf ein ordentliches
gesellschaftliches Niveau achtete, wobei sie auch der Kunst huldigte
und z.B. regelmäßig den Louvre besuchte. Sie war
eine passionierte Leserin und nahm an einem Lesezirkel teil -
Shakespeare
konnte sie im Original lesen. An den Abenden schrieb sie viel:
Korrespondenzen und Tagebuch, wovon nur ein geringer Teil erhalten
geblieben ist.
Die Mutter empfand vor der Geburt Marcels Angst um ihn, diese wurde zu
einer existenziellen Bindung, von der sich Marcel nur befreien konnte,
indem er sie in seinem Werk sublimierte. Schlimm war es für
die Eltern, als ihr "kleiner Wolf", wie die Mutter Marcel nannte, es
nie fertigbrachte, mit der Onanie aufzuhören. Geradezu
bestürzt reagierten die Eltern, als sie von den homosexuellen
Neigungen Marcels Kenntnis bekamen.
Jeanne litt stark unter dem Verlust ihrer Mutter und unter der
gleichzeitigen Loslösung Marcels während seiner
Militärzeit. So schmerzlich weitere Verluste waren,
heißt es: "Durch den Tod ihres Onkels und ihres Vaters war
Jeanne Proust eine sehr reiche Frau geworden." Eher
ungewöhnlich mochte wohl sein, dass Jeanne von Anfang an die
Schriftstellerei ihres Sohnes kritisch und unterstützend
begleitete - so lernte er diszipliniert und
regelmäßig zu arbeiten. Da Marcel nun auch die
Dreißig überschritten hatte, aber noch im Elternhaus
wohnte, spürte er die Last der Autorität der Eltern
immer heftiger. Als schließlich die Eltern sterben, mutiert
Marcel quasi vom Sohn zum Schriftsteller. Und all dies und noch einiges
mehr ist im vorliegenden Buch recht einfühlsam und authentisch
beschrieben, erzählt und nachvollzogen. Man fühlt
sich richtiggehend zurückversetzt in die damalige
Atmosphäre.
(KS; 10/2006)
Evelyne
Bloch-Dano: "Madame Proust"
(Originaltitel "Madame Proust - Biographie")
Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn , Barbara Reitz.
Claassen, 2006. 372 Seiten.
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