Nagib Machfus: "Die Reise des Ibn Fattuma"


"Als wir den Fuß des Bergs endlich erreicht hatten, kam es mir vor, als hätten wir ein Leben lang dafür gebraucht. Wir standen unten und starrten hinauf - die Stadt ragte bis in die Wolken, trotzte unseren Sehnsüchten." (Auszug aus "Die Reise des Ibn Fattuma")

Die Utopie vom Glück
Ibn Fattumas islamische Heimat


Mohammed al-Innabi, reicher Getreidehändler und Vater von sieben erfolgreichen Kaufleuten, verliebt sich in fortgeschrittenem Alter in die junge Fattuma. Er heiratet sie gegen den Willen seiner Verwandtschaft und wird nochmals Vater. Der Nachkömmling Kindil Mohammed al-Innabi, genannt Ibn Fattuma (Sohn der Fattuma) wächst, da der Vater bald stirbt, bei der Mutter auf. Ibn Fattuma geht nicht zur Schule, sondern wird von einem Privatlehrer, einem Freund der Familie, unterrichtet. Er wächst als Moslem auf und ist ein aufmerksamer Junge. So wundert er sich bald über die vielen Ungerechtigkeiten in seinem Land. Eines Tages hört er von dem weit entfernten Gaballand, welches das einzige vollkommene Land sei. Aber niemand weiß Genaues über dieses geheimnisvolle Land.

Als Zwanzigjähriger verliebt er sich in die hübsche Halima. Kurz vor seiner Hochzeit wird ihm Halima vom dritten Kammerherrn des Sultans, einem mächtigen Mann, weggenommen. Als dann auch noch seine Mutter seinen ehemaligen Privatlehrer heiratet, bricht für ihn endgültig eine Welt zusammen. Enttäuscht von seiner Familie und seiner Heimat und aus Liebeskummer begibt er sich mit einer Karawane auf eine große Reise durch die Wüste. Er will Weisheit erlangen und der Erste aus seinem Volk sein, der das geheimnisvolle Gaballand tatsächlich erreicht.

Das Naturvolk der Maschrik
Nach einigen Tagen erreicht die Karawane das Maschrikland. Ibn Fattuma quartiert sich im Gasthaus ein. Ihm fallen die Ödnis in diesem Wüstenland und die Nacktheit der Bevölkerung auf. Die heidnische Bevölkerung, so erfährt er, kenne keine festen Beziehungen. Sie beten den Mond an und als Heiden kennen sie kein ewiges Leben und kein Paradies. Im Maschrikland gibt es keinen König, sondern jede Stadt hat ihren Herrscher. Die Menschen sind zufrieden, obwohl sie versklavt sind, da sie sich dieser Situation nicht bewusst sind. Hier lernt Ibn Fattuma die junge Frau Arusa kennen, in die er sich verliebt. Fortan leben sie zusammen und Arusa bekommt vier Kinder von ihm. Als Ibn Fattuma seinen ältesten Sohn muslimisch erziehen will, ist der Ärger vorprogrammiert. Wurden die Bewohner schon wegen der ungewöhnlich langen Beziehung zwischen Ibn Fattuma und Arusa argwöhnisch, überspannt er mit seiner muslimischen Erziehung den Bogen endgültig. Er muss ohne seine Familie das Land verlassen.

Das diktatorische Hairaland
Nach einer langen Reise durch die Wüste erreicht Ibn Fattuma das Hairaland. Hier gilt der König als Gott und Gotteslästerer werden hingerichtet. Das Land ist geprägt von einem Klassensystem. Bildung und Gesundheit gibt es nur für die elitäre Klasse. Demut, Gehorsam und Genügsamkeit sind die Tugenden des Fußvolkes. Das Land befindet sich permanent in Kriegsgefahr und eines Tages führen die Hairaländer Krieg gegen das Maschrikvolk. Dieses wird von seinen alten Stadtfürsten befreit und die Bewohner im Hairaland werden erneut unterworfen. Hier trifft Ibn Fattuma seine Arusa wieder. Aber Arusa ist begehrt. Der weise Desing, ein Mann aus der elitären Oberschicht, beansprucht Arusa und Ibn Fattuma wandert aufgrund einer Verleumdung ins Gefängnis. Nach vielen Jahren wechselt das Regime und der weise Desing wird ins Gefängnis eingeliefert. Ibn Fattuma wird befreit und darf seine Reise fortsetzen. Zwanzig Jahre sind seit seiner Verhaftung vergangen.

Das Halbaland - Land der Freiheit und der Aufklärung
Das Halbaland erinnert an westliche Demokratien. Der Präsident wird gewählt und die Regierung ist für die Sicherheit und Landesverteidigung zuständig. Prägend für das Land sind staatliche Schulen, Wissenschaftszentren, die Gleichberechtigung der Frau und Religionsfreiheit. Entsprechend der vorhandenen individuellen Freiräume gibt es im Land Arme und Reiche, Arbeitslose und Berufstätige sowie gesetzestreue Bürger und Verbrecher. Die Weisen der Naturvölker werden ersetzt durch Wissenschaftszentren. Die Aufklärung führt dazu, dass Aberglauben und Willkür beseitigt werden.

Auch das Halbaland bleibt nicht vom Krieg verschont. Es führt Krieg gegen das Hairaland und das Maschrikland, um den Siegeszug der Freiheit fortzusetzen. Die Demonstrationen auf den Straßen sprechen eine andere Sprache. Danach handele es sich um einen "Krieg der Güter" und nicht um einen "Krieg der Prinzipien".

Ibn Fattuma heiratet die Kinderärztin Samija. Sie bekommt ein Kind. Die vielen gleichberechtigten Diskussionen mit Samija sind für den Moslem Ibn Fattuma verwirrend. Samija ist ihm intellektuell überlegen. Nach einiger Zeit trennen sich die beiden und Ibn Fattuma setzt seine Reise weiter fort.

Das kommunistische Amanland
Im Amanland erhält Ibn Fattuma eine Aufenthaltsgenehmigung für zehn Tage und einen ständigen Begleiter. In diesem Land haben alle Männer und Frauen Arbeit. Jeder bekommt entsprechend seiner Begabung eine Ausbildung und jeder erhält eine angemessene Bezahlung. Alle Menschen sind gleich. Die Erzieher nehmen die Stelle der Eltern ein. Der Präsident wird von einer Führungsgruppe gewählt und kann praktisch nicht abgewählt werden. Privateigentum gibt es nicht, alles gehört dem Staat. Das oberste Prinzip lautet "Gerechtigkeit". Die Freiheit dagegen steht unter Kontrolle. Das Volk betet die Erde an. Die Gleichartigkeit ist so groß, dass sie in Gleichgültigkeit bzw. Abgestumpftheit ausartet. Das Volk ist nicht glücklich, steht aber hinter seinen Prinzipien, was einem wie auch immer gearteten Glauben nahe kommt. Persönliche Freiheit wird mit dem Tode bestraft. Das hohe Maß an Überwachung wirkt auf Ibn Fattuma befremdlich und er bleibt nicht länger als notwendig. Mit der nächsten Karawane zieht er weiter. Auch im Amanland bricht der Krieg aus.

Das Ghurubland - ein buddhistisches Kloster
In diesem Land gibt es keine Wachen. Alle Menschen sind in sich gekehrt. Ibn Fattuma trifft jemanden, der das Verborgene sehen kann. Dieser behandelt Menschen, deren Geist verwirrt ist, z.B. Flüchtlinge, die sich von ihren verderblichen Gelüsten zu befreien versuchen. Auf die Reise ins Gaballand müsse man sich vorbereiten. Jeder Mensch verfüge in seinem Inneren über Schätze, derer er sich bewusst werden muss. Für das Gaballand sei eine Vorbereitung erforderlich, weil man sich im Gaballand auf diese Schätze berufe und auf sinnliche Empfindungen oder körperliche Vorzüge keinen Wert lege. Man werde im Gaballand alles vergessen. Dieses Land nur zu besuchen, sei nicht möglich. Ist der Weg der Erleuchtung der wahre Weg, um das Gaballand zu erreichen? Auch ins Ghurubland zieht der Krieg ein. Jeder muss sich entscheiden, ob er im Land bleiben und dort arbeiten und das Land bestellen oder mit der nächsten Karawane ins Gaballand ziehen will.

Die Vision vom Gaballand
Die Reise zum Gaballand ist beschwerlich. Die Reisenden müssen eine Wüste durchqueren und eine Bergkette überwinden. Von weitem ist das Gaballand erkennbar.
An dieser Stelle beende ich meine Beschreibungen. Hat Ibn Fattuma das Gaballand wirklich erreicht? Was bedeutet das Gaballand?

Ist das Gaballand eine psychologische Wunschprojektion, ein visionäres Bild, das der Mensch tief in seinem Inneren trägt und das mit seinem Ursprung zu tun hat?
Entspringt es der menschlichen Fähigkeit zu reflektieren und der daraus resultierenden Sehnsucht nach Vollkommenheit?

Alle Gesellschaftsformen haben ihre Ecken und Kanten und damit nur eine relative Bedeutung. Der Mensch kreiert überall auf der Welt Ideologien, die er als Wahrheiten verkauft. In der Jugend erworbene ideologische Prägungen begleiten den Menschen ein Leben lang. Für Ideologien werden Morde begangen und Kriege geführt. Glaube, Freiheit, Gerechtigkeit und Erkenntnis kann man nicht unter einem Hut fassen. Kein vom Menschen entworfenes System ist vergleichbar mit der mystischen Vorstellung des Paradieses. Jede Ideologie vergewaltigt menschliche Wesenszüge und führt im Extrem zu Unterdrückung und zum Krieg. Der Krieg verfolgt Ibn Fattuma durch alle Kulturen. Erst auf seiner letzten Reise entsteht eine Ahnung von einem friedlichen Leben.

Beim Lesen drängt sich ein Vergleich mit Paulo Coelhos "Der Alchimist" auf. Ähnlich wie Santiago reist auch Ibn Fattuma durch die Wüste und lernt weise Menschen und unterschiedliche Kulturen kennen. Während Coelho ein weises Märchen für Träumer geschrieben hat, verfasste Machfus eine Parabel über den Menschen, wie er ist - ein reales orientalisches Märchen.
Würde man von den Büchern Rückschlüsse auf die Autoren ziehen, so erschiene Paulo Coelho als Träumer, der daran glaubt, dass der Mensch seinen Weg findet und Nagib Machfus als der exzellente Beobachter, der keinerlei Illusionen über den Menschen erliegt und ihn so zeigt, wie er ist. Vollkommenheit ist im Diesseits erahnbar aber nicht erreichbar. Diese fundamentale Erkenntnis ist die Quintessenz aus diesem großartigen Buch von Nagib Machfus.

"Die Reise des Ibn Fattuma" ist mehr als ein Reifungsprozess eines Heranwachsenden, wie ihn Carlos Ruiz Zafón in "Der Schatten des Windes" zelebriert hat. Es ist die Lebensgeschichte und Lebensvielfalt der Menschheit aus dem Blickwinkel eines reifen Autors, der für dieses Buch alle ideologischen Masken angelegt und auch wieder abgelegt hat.
Diese distanzierte Betrachtungsweise ist nur einem erfahrenen Schriftsteller möglich.

(Klemens Taplan; 07/2004)


Nagib Machfus: "Die Reise des Ibn Fattuma"
(Originaltitel "Rihlat Ibn Fattuma")
Aus dem Arabischen von Doris Kilias.
Unionsverlag, 2004. 192 Seiten.
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"Das Hausboot am Nil" erschien 1966 (deutsch 1982). Der heiter-melancholische Roman war damals auch eine Antwort auf die Verdrossenheit, die Nassers Revolution von 1952 unter den Intellektuellen hervorgerufen hatte. Zum Glück aber ist das Vergnügen an Machfus’ Geschichte von Welt und Gegenwelt auf eine Stimmung von damals nicht angewiesen. (Suhrkamp)
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Ein Mann strebt nach oben: Osman will Herr des "Blauen Zimmers" - Ministerialdirektor - werden. Aber wenn einer aus diesem Viertel stammt, Sohn eines Kutschers ist, als Einziger in der ganzen Nachbarschaft ein weißes Hemd und Aktentasche trägt, keinerlei Protektion genießt und nur auf Talent und List bauen kann, dann muss er in der achten Besoldungsklasse und im Archivkeller des Ministeriums beginnen. Opfer müssen erbracht werden. Freundschaften, Herzensangelegenheiten und Verlockungen des Fleisches dürfen dem Aufstieg nicht im Wege stehen. Politische Kämpfe, soziale Unruhen? Wer damit seine Zeit vergeudet, hat von der hohen Mission des Beamtentums nichts begriffen. Nur wenig Zeit ist dem Menschen geschenkt, das große Ziel erfordert einen unerbittlichen Plan. Jahrzehntelang war Nagib Machfus selbst Angestellter des Bildungsministeriums. Die intimsten Regungen im Leben der Bürokratie sind ihm vertraut. Und schließlich war das pharaonische Ägypten ja auch das Mutterland aller Verwaltungsapparate. Mit leichter Feder, kompakt und satirisch, hat Machfus einen Prototyp des universalen Bürokraten geschaffen. Sein "Ehrenwerter Herr" ist bereits legendär geworden.
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"Die Nacht der Tausend Nächte"
Machfus erzählt vom grüblerisch gewordenen Sultan, der sich nachts unter die Untertanen mischt, um die Wahrheit zu suchen. Vom Widerwillen Schehrezads vor ihrem blutbefleckten Gatten. Von Geistern und Dämonen, die mit den Menschen spielen und sie auf die Probe stellen. Vom Schneider Maruf, der Wunder vollbringt und gar nicht weiß, warum, von Sindbad, der im Kaffeehaus seine Abenteuer erzählt. Aber er wäre nicht Machfus, wenn er dabei nicht mit liebevollem Spott dem Menschengeschlecht einen Spiegel seiner Schwächen und Eitelkeiten vorhalten würde und seinen Zorn aufblitzen ließe über eine Welt, in der "der Donner lauter grollt als die Tauben gurren".
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