"Märchen aus dem alten Venedig"

Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Herbert Boltz


Venedig zählt laut Italo Calvino neben Sizilien und der Toskana zu den drei bedeutendsten Märchenregionen des heutigen Italien. Davon zeugt nicht zuletzt dieses Büchlein mit Geschichten, durchweht nicht nur vom "unverwechselbaren Geist Venedigs, seinen Räumen, seinem Licht", sondern auch, ebenso typisch für jene zauberhafte Stadt, und zwar nicht nur zu Zeiten des Carnevals, von einer gewissen bizarren Verspieltheit.

Für den in erster Linie an die Deutschen Kinder- und Hausmärchen gewöhnten Leser fällt zunächst einmal auf, dass die Venezianischen Märchen weit weniger "stubenrein" sind als es die Grimmsche Zensur wohl zugelassen hätte. Die Sammler, bestehend aus Giuseppe Nalin, Georg Widter, Adam Wolf und Domenico Giuseppe Bernoni waren, wie folgende Beispiele zeigen mögen, also eher um wissenschaftliche Authentizität denn um pädagogische Ausrichtung bemüht: "Im Nebenzimmer lag der Kaufmann in ein Leintuch gehüllt auf dem Sterbebett. Der Bauer rückte seinen Schemel heran und stieg hinauf. Dann knüpfte er sich die Hose auf und traf alle Anstalten, dem Verstorbenen seinen letzten Gruß abzustatten. Der vermeintliche Tote aber ließ es erst gar nicht dazu kommen. Er fuhr hoch und biss dem Vetter so kräftig in sein alleredelstes Teil, dass dieser schreiend davonlief."

Die Friauler, bekanntlich bis auf den heutigen Tag grobe, ungehobelte Klötze, wurden vom Herrn Jesus aus Hundekot erschaffen. "Unser Herr Jesus", der in Begleitung des Apostel Petrus viel und gerne durch Venetien wandelte, bereitet überhaupt allerlei unheiligen Schabernack, etwa wenn er einer habgierigen Frau Darmkrämpfe und Blähungen bereitet oder seinen Petrus solange in der Esse schmiedet, bis sich dieser in einen strahlend schönen Jüngling verwandelt ...

Blutrünstig sind die venezianischen Märchen allemal, die Freude an Vergeltung wird weit grausamer ausgelebt als es die Gebrüder Grimm zuließen, doch diesen Zug haben die Märchen fast aller Völker gemeinsam. Gerade jedoch die Eigenständigkeit, die wilde, ungezügelte Fantasie ist es, die bei Lektüre des Buches am meisten fasziniert. Lediglich das Märchen "Die Ungeheuer der Insel" "erinnert" an ein mitteleuropäisches Motiv, nämlich an die gleichermaßen blutig-düstere Geschichte vom bösen und gleichzeitig letztendlich betrogenen Wassermann, welches durch die symphonische Dichtung Antonín Dvoráks international bekannt geworden ist. Auch die politischen Machtverhältnisse spiegeln sich in den Märchen wider. Ihr anarchistisch-widerborstiger Zug richtet sich in erster Linie gegen stets - gelinde gesagt - blöde agierende Prinzen und Könige, also gegen eine, in Anbetracht des Umstandes, dass in Venedig zu keiner Zeit ein absolutes, erbliches Königtum von Gottes Gnaden bestand, doch eher abstakte Macht. Die wahren Machthaber, die Dogen und die Nobili, bleiben denn auch von jeglicher despektierlicher Betrachtung ausgenommen, wenn sie überhaupt in Erscheinung treten, und Kaufleute sind bekanntlich stets edel, großmütig, gütig und gerecht, all dies selbstverständlich umso ausgeprägter, je reicher sie sind.

Wer also Venedig liebt (und wer tut dies nicht!) und mehr über die Seele dieser Stadt erfahren will, oder wer sich einfach für authentischen Märchenstoff interessiert, sollte an diesem Buch nicht vorübergehen.

(Franz Lechner; 06/2002)


"Märchen aus dem alten Venedig"
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Herbert Boltz.
Unter Mitarbeit von Heidrun Vollmer.
Diogenes, 2002. 202 Seiten.
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