Hugo Friedrich: "Die Struktur der modernen Lyrik"
Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
Abkehr
von der Erlebnis- und Bekenntnislyrik
Der vorliegende Band feiert 50jähriges Jubiläum und
möchte uns 'Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des
zwanzigsten Jahrhunderts' (Untertitel) über die Gegebenheiten
der sogenannten modernen Lyrik informieren. In seinem Nachwort
bezeichnet Jürgen von Stackelberg den vorliegenden Band als
"mindestens ebenso ein künstlerisches wie ein
wissenschaftliches Werk." Friedrichs Buch ist ein europäisches
im Sinne der "Aufsuche struktureller Gemeinsamkeiten" (ebd.). Verwiesen
wird auf Friedrichs "apodiktischen Stil", sowie die
Vernachlässigung einiger eigentlich wichtiger Lyriker wie Brecht,
George,
Neruda
und Whitman. Bücher wie das vorliegende werden immer in einem
Spannungsfeld entstehen zwischen Fleißarbeit, literarischen
Vorlieben bzw. Wahrnehmungsrastern sowie einer notwendigerweise
historisch begrenzten Sichtweise. Freilich wäre es altklug,
nun 50 Jahre nach der Erstauflage über mögliche
Fehleinschätzungen zu richten - v.a. wenn man bedenkt, dass
Friedrich bereits im Jahr 1978 starb und sein Buch zwar weiter neu
aufgelegt, aber eben nicht mehr "aktualisiert" werden konnte - es sei
denn - und das wäre eine Überlegung wert - Co-Autoren
hätten das Werk fortgeführt (so wie es, analog
argumentiert, mit dem Grimm'schen Wörterbuch etwa geschah).
Ein Schlüsselsatz aus dem Vorwort der ersten Auflage (1956)
scheint zu sein: "Von Rimbaud und Mallarmé aus erhellen sich
die Stilgesetze der Heutigen, und von den Heutigen aus erhellt sich
wiederum die erstaunliche Modernität jener Franzosen." Das
Problem bei Literaturwissenschaftlern und bei Rezensenten sind
möglicherweise doch eventuelle Vorlieben - bzw. was
übersieht man dabei absichtlich oder unbewusst. Friedrich legt
zur Zielsetzung seines Buches ganz klar fest: "Eine Geschichte der
modernen Lyrik will es nicht sein. Sonst hätten sehr viel mehr
Autoren behandelt werden müssen. Der Begriff der Struktur
macht Vollständigkeit des historischen Materials
überflüssig" - da eben nur repräsentativ
gearbeitet zu werden braucht. Widersprüchlich und
kontraproduktiv klingt es allerdings, wenn Friedrich sich
ausdrücklich "auf keine Definition einlassen" möchte,
was moderne Lyrik sei, andererseits aber "die Symptome der harten
Modernität zu erkennen" bemüht ist - und zwar die
"überpersönlichen, übernationalen und
über die Jahrzehnte hinwegreichenden Symptome moderner Lyrik."
Der Begriff Struktur definiert sich für Friedrich als "ein
organisches Gefüge, eine typenhafte Gemeinsamkeit von
Verschiedenem", nämlich die "Abkehr von klassischen,
romantischen, naturalistischen, deklamatorischen Traditionen."
Für Mario Andreotti ('Die Struktur der modernen Literatur')
gilt vergleichsweise im Unterschied zur traditionellen Erlebnis- und
Stimmungslyrik die Entpersönlichung als zentrales
Strukturmerkmal der modernen Lyrik, ausgehend von
Nietzsches These von
der Dissoziation des Ich: "Das bedeutet allgemein eine
Zurücknahme des lyrischen Ichs bis hin zu dessen
völligem Verschwinden" (vgl. Andreotti ebd.). Für
Friedrich ist das grundlegende Merkmal der modernen Lyrik seit
Baudelaire
ihre Dunkelheit, ihre Unverständlichkeit, ihre Unruhe - kurz:
ihre dissonante Spannung. So bedeutete etwa für Benn Dichten,
"die entscheidenden Dinge in die Sprache des Unverständlichen
(zu) erheben." Nach Friedrich wird Wirklichkeit im modernen Gedicht
deformiert, der Autor ist als "dichtende Intelligenz" tätig;
Benn
etwa dekradiert: "Gemüt? Gemüt habe ich keines."
Moderne Lyrik will nicht "mitteilen", sie will "überraschend
befremden" und sie will einen "Prozess der weiterdichtenden,
unabschließbaren, ins Offene hinausführenden
Deutungsversuche" auslösen. Und noch eine Feststellung ist
interessant: "dichterische Originalität rechtfertigte sich aus
der Abnormität des Dichters." Was natürlich
stillschweigend voraussetzt, dass man die traditionelle,
harmonieorientierte und auf eine Ordnung vertrauende Lyrik, ja
Literatur und Kunst insgesamt als "Norm" setzt - was problematisch sein
dürfte. Daraus resultiert auch Friedrichs (uneingestandenes?)
Problem, dass er meint, man könne moderne Dichtung "weit
genauer mit negativen als mit positiven Kategorien" beschreiben.
Bereits für Novalis sollte das "Chaos in jeder Dichtung
durchschimmern", und Friedrich Schlegel bestimmte das "Excentrische und
Monströse" als Voraussetzung dichterischer
Originalität. Insofern waren solche Gedanken
deutscher
Romantiker eigentlich Wegbereiter der französischen bzw.
westeuropäischen "Moderne"! Friedrich sieht offensichtlich
ebenso wie
T.S.
Eliot in Baudelaire "das größte Beispiel
moderner Dichtung in irgendeiner Sprache." Er und
Poe
fordern die Abkehr von jeglicher persönlicher
Sentimentalität, die "willentliche Unpersönlichkeit"
der Dichtung. Ästhetik beruht demnach auf Vernunft und
Kalkül, Metaphern bekommen eine "mathematische Genauigkeit."
Baudelaire steigert sich bis zum "aristokratischen Vergnügen
zu missfallen" - er will "den Leser irritieren und nicht mehr von ihm
verstanden werden." Wiewohl er seinen "Ekel am Wirklichen" artikuliert,
zerlegt er mit Hilfe der Fantasie die Realität und erzeugt
eine neue, irreale, unkontrollierbare Welt. So gelangt Friedrich zu dem
Schluss, Baudelaires Dichtung sei "entromantisierte Romantik" - aus
Randeinfällen einiger Romantiker hat er ein
Denkgebäude moderner Poesie errichtet.
Friedrich geht nun sehr detailliert und dezidiert auf verschiedene ihm
wichtig und repräsentativ erscheinende Autoren ein - wie etwa
Rimbaud ("er nimmt den inneren Tod auf sich"), Mallarmé ("Er
macht die unendliche Potentialität der Sprache zum
eigentlichen Inhalt seiner Dichtungen") oder auf etliche weitere
europäische Vertreter (Apollinaire, Lorca, Valéry,
Eliot). Dabei erkennt Friedrich: "Unstimmigkeit zwischen Zeichen und
Bezeichnetem ist ein Gesetz moderner Lyrik. (...) Der Stil ... verwehrt
den Inhalten ihren Anspruch auf Eigenwert und Kohärenz." Die
"neue Sprache" soll den Leser "überraschen", das Schreiben in
Stichworten zeigt das Fragmentarische , das Isoliertsein - das Zeigen
wird stenografisch. Von Ortega y Gasset stammt die These von der
"Enthumanisierung der Kunst" (1925) - weil "die humane Empfindung, die
durch ein Kunstwerk hervorgerufen wird, von dessen
ästhetischer Qualität ablenkt." So entsteht im Extrem
die "menschenlose, ichlose" Lyrik - Dichtung wird (schein)objektiv. Und
es kommt zur paradoxen Aufgabe der Sprache in der modernen Lyrik,
"einen Sinn gleichzeitig auszusagen wie zu verbergen." Man
möchte "dunkel" dichten - hermetisch - so nur glückt
die Vollendung! Da nach Valéry ohnehin keine Erkenntnis
möglich ist, ergibt sich auch aus dem modernen Gedicht kein
"wahrer Sinn". Konsequenter noch als Valéry landet
Apollinaire, von dem der Begriff Surrealismus stammt, beim Traum als
Gegenentwurf zur Weltrealität. So heißt es etwa auch
in Benns Gedicht 'Der Traum': "auf nichts auf Erden beziehn sich seine
Namen."
Schließlich mündet diese Entwicklung u.a. ins
Absurde, zum Ausdruck kommt in einer seltsamen Art "Humorismus" die
"Unstimmigkeit zwischen Mensch und Welt" (vgl. Gómez de la
Serna, Ismos). Bei T.S. Eliot heißt es am Ende von 'The Waste
Land': "Diese Fragmente habe ich gegen meine Ruinen gestützt."
Die moderne Dichtung versucht also das Unsagbare zu artikulieren,
während ihr die Sprache zerbricht. Die "diktatorische
Fantasie" (Rimbaud)
erschafft etwas, was wir nie sehen werden - im Grunde hatte
Picasso,
als er das "Malen ein Blindenhandwerk" nannte, diese Freiheit der Kunst
(der Poesie) von jeder gegenständlichen Rücksicht
allgemeingültig für die sogenannte Moderne erkannt
und artikuliert.
Friedrich gelingt hier der Nachweis der Befindlichkeit moderner Lyrik
zwischen vordergründiger Realität und behaupteter
Transzendenz in der dissonanten Irrealität. Da sich im Anhang
noch eine ganze Reihe von Gegenüberstellungen fremdsprachiger
Gedichte mit deutschen Übertragungen finden, kann der Leser
auch am praktischen Beispiel versuchen, die hier vorgestellten Thesen
nachzuvollziehen. Ein im positiven Sinne beunruhigendes Buch, mit dem
es sich immer noch auch nach 50 Jahren zu arbeiten lohnt.
(KS; 12/2006)
Hugo
Friedrich: "Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des 19. bis
zur Mitte des 20. Jahrhunderts"
rororo Rowohlt, 2006. 332 Seiten.
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