Ruth Klüger: "Gemalte Fensterscheiben"
Über Lyrik
Analoges
Interpretieren
Die gebürtige Österreicherin lehrte lange Zeit
Germanistik an diversen amerikanischen Universitäten.
Während sie sich in ihrem letzten Buch 'Gelesene Wirklichkeit'
(2006) mit 'Fakten und Fiktionen in der Literatur' (Untertitel)
beschäftigte, schreibt sie hier 'Über Lyrik'
(Untertitel). Dabei handelt es sich größtenteils um
Interpretationen, die bereits in der FAZ-Reihe 'Frankfurter Anthologie'
erschienen sind. Der Betreuer dieser Reihe,
Marcel
Reich-Ranicki, äußert sich sehr
respektvoll, er habe von Ruth Klüger "viel, sehr viel
gelernt", weil sie praktiziere, wie man Literatur betrachten solle:
"liebend und kritisch zugleich".
Das ausgewählte Material reicht vom 'Merseburger
Zauberspruch' über
Goethe,
Schiller,
Heine,
Lasker-Schüler,
Brecht,
Huchel, Celan, Bachmann
und etliche Andere bis herauf zu Gernhardt
- mystische, politische oder humoristische Texte. Der Titel des
vorliegenden Buches ist im übrigen der Goethe-Zeile entliehen:
"Gedichte sind gemalte Fensterscheiben" - und Klüger
erläutert, wie sie Goethes Anschauungsweise quasi zu ihrer
Interpretationsmethode gemacht hat: ein Gedicht nicht von
außen, sondern von innen zu betrachten - "Da ist's auf einmal
farbig helle" (Goethe). Als Interpret möchte sie dem Leser die
Leuchtkraft eines Gedichts sichtbar werden lassen - wobei die FAZ-Reihe
den Vorteil hat, dass der jeweilige Bearbeiter knapp und pointiert zum
Wesentlichen kommen muss - d.h. das vorliegende Buch ist auch
für Nichtgermanisten kurzweilig zu lesen.
Klüger arbeitet gerne analogisch - wie sie schon den
Goethe-Vers für ihre Vorgehensweise erklärend nutzte,
gelingt ihr das entsprechend mit dem 'Merseburger Zauberspruch': wie
bei den Beschwörungsformeln im Gedicht sich "Gleiches wieder
zu Gleichem" findet, so gilt: "Im naiven Vertrauen auf die Macht der
richtigen Wörter hat sich unsere Muttersprache zuerst zu
Dichtung verdichtet." Klüger nimmt uns auch die Befangenheit
gegenüber der Lyrik, wenn sie etwa fast leger zu Goethes Text
'Urworte. Orphisch' bemerkt: "Über kein anderes Goethe-Gedicht
ist mehr geschrieben worden als über dieses (...) Und doch ist
kaum ein anderes so leicht zu verstehen. Es leuchtet sofort ein, man
kann sich gar nicht irren." Das mag den beflissenen
Literaturwissenschaftler die Stirne runzeln lassen, ist er es doch
gewohnt, sich in diffizile Details zu verrennen - der gutwillige Leser
nimmt es beruhigt und gar etwas süffisant zur Kenntnis. Dass
dieser Ansatz nicht zur Leichtfertigkeit im Umgang mit Gedichten
führt, dafür sorgen schon komplexere Gedichte selbst
und auch der gediegene Umgang Klügers mit Formen, Metaphern
und Aussagevarianten.
Klüger erlaubt es sich, 'Das Lied der Deutschen' als
"unbedeutend" und "minderwertig" zu klassifizieren, während
sie etwa dem relativ unbekannt gebliebenen 'Möwenflug' von
C.F. Meyer "makellose Schönheit" bescheinigt - nun Adenauer
und Heuss haben Fallerslebens Text mit der Vertonung von Haydn wohl
auch weniger aufgrund ihrer literarischen Kennerschaft zur
Nationalhymne geadelt.
Morgensterns Korf wird uns in 'Die
Behörde' als ein Verwandter von Kafkas K. im
'Prozeß' vorgestellt (war er nicht auch ein Vorfahr von
Frischs 'Stiller'?).
Erich Kästners 'Patriotisches
Bettgespräch' (1930) könnte freilich noch stringenter
aktualisiert werden (Thema: Geburtenrückgang) - andererseits
erinnerte Erich Fried ('Zu Holze') mit "modernem Zweifel" an die
"heidnische Magie" des 'Merseburger Zauberspruchs' - und
Klüger erkennt darin die Fragestellung, "ob Dichtung und
Denken Veränderungen in der Wirklichkeit zur Folge haben."
In einem Redebeitrag zum Schluss meint Klüger, "Sublimierung"
sei der Lyrik "eigentliches Anliegen", und die Dichter wie die Kritiker
seien "Seiltänzer zwischen der erlebten und der imaginierten
... Wirklichkeit." Und wir als Leser müssen uns immer wieder
neu positionieren unter dem Seil, um uns nicht den Hals zu verrenken
und die möglichen subjektiven wie objektiven Einsichten in die
Lyrik zu (v)erarbeiten.
(KS; 02/2007)
Ruth
Klüger: "Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik"
Wallstein Verlag, 2007. 252 Seiten.
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Ruth
Klüger, 1931 in Wien geboren, emigrierte 1947 in die USA und
studierte in New York und Berkeley. Als Professorin für
Germanistik lehrte sie an der Universität von Virginia, an der
Princeton University sowie an der University of California in Irvine
und war lange Herausgeberin des "German Quarterly". Zahlreiche
Auszeichnungen, zuletzt Lessing-Preis (2007).
Ruth Klüger starb am 5. Oktober
2020 in Irvine.
Zwei weitere Bücher der Autorin:
"Marie von Ebner-Eschenbach" Anwältin der Unterdrückten
zur Rezension ...
"Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur"
Steht es dem Schriftsteller frei, einen historischen Stoff in einem
literarischen Text nach eigenen Maßgaben zu
verändern? Von
Platon bis
Philip Roth reicht das Spektrum der
Texte, anhand derer Ruth Klüger dieser Fragestellung nachgeht.
Was ist wahr? Wie steht es um das Verhältnis des
geschichtlichen Faktums zum Erzählen davon? Ruth
Klüger beschäftigen seit vielen Jahren die
philosophischen, moralischen und nicht zuletzt ästhetischen
Dimensionen dieses Problems. Warum hat der Dramatiker Schiller
Jeanne
d'Arc auf dem Schlachtfeld sterben lassen, wiewohl er es als Historiker
besser wusste? Wieso können wir es leicht hinnehmen, dass er
Maria Stuart so deutlich "verjüngt", fänden es aber
unverzeihlich, hätte
Tolstoi Napoleons Niederlage im
Russlandfeldzug unterschlagen? Warum wird ein und derselbe Text ganz
neu gelesen, wenn man erfährt, dass sein Verfasser nicht
eigene Erinnerungen aufgeschrieben hat, etwa als ein
Überlebender der Lager, sondern eine Romanhandlung in Ich-Form
erfunden hat? Warum findet man unter Umständen kitschig, wovon
man vorher ergriffen war? "Die Autobiografie ist ein Werk, in dem
Erzähler und Autor zusammenfallen, eins sind." Und so gewiss
Ruth Klüger das Schreiben über die eigenen
Erfahrungen in einem Grenzdorf zwischen Geschichte und Belletristik
angesiedelt sieht, so sicher hält sie fest an der
Identität eines Ich, das Zeugnis ablegen kann. (Wallstein
Verlag)
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