Luo Lingyuan: "Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock!"

Erzählungen


Genau wie die Wirtschaft nimmt auch die chinesische Kultur einen immer größeren Teil der Aufmerksamkeit der Menschen im Westen in Anspruch. So vergisst man immer wieder gerne, dass dieser Waren- und Filmproduzent auch eines der letzten großen sozialistischen Länder unseres Erdballs ist und dies auch immer wieder in seinem innen- und außenpolitischen Handeln zeigt. Berichte aus dem Inneren nehmen wir dabei in der Regel durch die Federn urban lebender Menschen der neuen Industrie- und Wirtschaftszentren wahr oder durch Filmberichte von westlichen Reisenden, deren Recherchemöglichkeiten durch Regierungsbetreuer meistens stark eingeschränkt werden.

Die Autorin lebte 26 Jahre in der VR China, bevor es sie nach Deutschland verschlug. Hier hat sie sich gut etabliert und schreibt seit 1992 über allerlei Dinge des chinesischen Lebens. Die vorliegende Sammlung von Kurzgeschichten zeigt sehr verschiedene Facetten davon und zwar auf dem Lande genauso wie in den Städten. Hierbei wird deutlich, dass das Leben auf dem Land in China kaum romantische Züge aufweist, und unter anderem die Kurzgeschichte "Der falsche Empfänger" zeigt, wie schnell sich jemand auf der Suche nach etwas ganz Anderem durch den Dschungel der städtischen Bürokratien von dem agraren Leben ab- und dem urbanen Treiben zuwenden kann. Denn das Leben auf dem Lande ist auch in China noch teilweise recht mittelalterlich.

Der soziale Wandel und auch die Diskrepanzen zwischen Stadt und Land bedingen auch einige Generationskonflikte, die sich familiär ("Tote Seidenspinner wandern schnell"), im Bildungswesen ("Party ohne Beleuchtung") und auch politisch ("Du bist der mächtigste Mann unserer Stadt") niederschlagen. Die Titelgeschichte bezieht sich im Übrigen auf die Politik der Geburteneinschränkungen und ihrer Auswüchse, wobei erschreckenderweise das hier Gezeigte noch eine harmlosere Variante einer grauenhaften Realität darstellt.

Einige Merkwürdigkeiten für "westliche" Leser liegen sicherlich in dem sozialistischen System begründet, welches das heutige China ausmacht. Aber China ist insgesamt ein deutlich vom "westlichen" Denken zu unterscheidender Kulturkreis mit einer sehr langen Zivilisationsgeschichte und einem hohen Anspruch an Unveränderlichkeit der Kultur wie auch des staatlichen Systems. So sind "Intimsphäre" und "Individualismus" für viele Chinesen wesentlich erklärungsbedürftigere Begriffe als für "westliche" Menschen, was die hier vorgelegten Kurzgeschichten nur allzu deutlich machen. Auch politische und geschäftliche Moral werden anders beurteilt.

Fazit: Ein überaus lehrreiches Buch, das darüber hinaus auch handwerklich sehr gelungen ist und darum auch für denjenigen, der nur gerne ein wenig lesen möchte, um sich an Geschichten zu erfreuen sehr gut geeignet. Sicherlich eine der positiveren Entdeckungen des Literaturmarktes der letzten Zeit.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 04/2007)


Luo Lingyuan: "Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock!"
dtv, 2005. 219 Seiten.
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Lingyuan Luo wurde 1963 in der Volksrepublik China geboren, studierte Computerwissenschaften und Journalismus und lebt seit 1990 in Berlin. Seit 1992 Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien in China. 2000 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste in Berlin; 2001 Literatur-Arbeitsstipendium des Berliner Senats; 2002 Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin; 2003 Literatur-Aufenthaltsstipendium der Stiftung Künstlerdorf Schöppingen.

Weitere Bücher der Autorin:

"Die chinesische Delegation"

Wenn eine chinesische Delegation von hohen Beamten, Funktionären und Unternehmern nach Berlin kommt, um an einer Konferenz teilzunehmen, und nebenbei noch in vierzehn Tagen halb Europa kennen lernen möchte, dann sind Konflikte vorprogrammiert. Besonders, wenn die meisten Teilnehmer dieses Tour de force noch nie aus ihrer Heimatstadt Ningbo herausgekommen sind und die Reiseleiterin eine sehr selbstbewusste junge Frau ist, die schon jahrelang in Deutschland lebt.
Ob es um eine verlorene Brieftasche geht oder um einen heimlichen Besuch im Rotlichtviertel von Amsterdam, die junge Song Danya hat alle Mühe, die Reisegruppe zusammenzuhalten. Besonders der machtbewusste Parteisekretär Wang Jian, der gewohnt ist, dass alle seine Anweisungen augenblicklich befolgt werden, und den die anderen nur den "Kommandanten" nennen, macht ihr das Leben schwer. Es kommt zu einem regelrechten Machtkampf, der zum Glück nicht tragisch endet.
Wie in einem Brennglas hat Luo Lingyuan die Konflikte eingefangen, die der rasche gesellschaftliche Wandel in China hervorruft. Dass dabei der Humor nicht zu kurz kommt, versteht sich von selbst. (dtv)
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