H.P. Lovecraft: "Der Ruf des Dämon"
Dunkle Geschichten
Gelesen von Simon Jäger und Simon Newby
(Hörbuchrezension)
Was
hier von Anfang an geboten wird ist pure Gänsehaut. Schon die ersten Takte
Musik weisen auf das Grauen hin, das schließlich ungebrochen fast eineinhalb
Stunden den Hörer zu traktieren vermag.
Es sind zwei längere Erzählungen von H.P. Lovecraft, die Simon Jäger mit eindringlicher
Stimme vorträgt. Die erste, betitelt Der Hund, beginnt ihren wahnsinnigen
Verlauf mit der Langeweile, die den Ich-Erzähler überkommt. In seiner tieftraurigen
Verfassung sucht er nach Abwechslung, und weil er gerne dem Schrecken begegnen
möchte, begibt er sich auf die Reise in eine geheimnisvolle Landschaft. Leichenschändung
und ein todbringendes Amulett sind die Ingredienzien, welche das Szenario bestimmen.
Immer wieder wird ein Ruf hörbar, der von einem Hund ausgestoßen werden mag,
der als "Dämon" durch die von Skeletten gepflasterte Landschaft springt. Die
Langeweile ist der Protagonist freilich los; allerdings ist er eingesponnen
in unvorstellbare Schreckensszenarien, die er nie mehr los wird. Er torkelt
durch den selbstgewählten Irrsinn und findet am Ende im
Selbstmord
den einzig möglichen Ausweg.
Eine Erweiterung des Bösen erschallt aus der zweiten Erzählung, welche den Namen
Das Fest trägt. Gemeint ist damit das Julfest, welches sozusagen als
Vorläufer des Weihnachtsfestes gelten kann. Das germanische Fest der Wintersonnenwende
wurde demnach christianisiert. Eigentlich sollte das Julfest ein fröhlicher
Brauch sein; aber es versteht sich von selbst, dass davon bei H.P. Lovecraft
keine Rede sein kann. Der Erzähler macht sich auf, in das Reich seiner Vorfahren
einzuziehen, um vielleicht die Geheimnisse rund um im Jahre 1692 als
Hexenwesen
ermordete Verwandte zu lüften. Er tritt bald ein in ein Reich, das vom gotteslästerlichen
Buch Nekromikon bestimmt ist. Der recht amüsante Film Armee der Finsternis
mag sich an diesem Thema orientiert haben. Hier geht es nämlich um die Entschlüsselung
dieses Werkes des "Teufels". Etwas anders in der Geschichte von Lovecraft. Das
Buch spielt die Rolle einer "Anti-Bibel" und wird von einem alten Mann, der
im unterirdischen Reich der geflügelten Bastarde als Zeremonienmeister gilt,
zitiert. Der Erzähler gelangt auf der Suche nach den Spuren seiner Vorfahren
in ein dunkles Reich, das mit einer Kirche und einem Friedhof verziert ist.
Er geht dem alten Mann nach, in dessen Haus er im Nekromikon geblättert hat.
Der Weg führt in eine Kirche, und in einem Seitenschiff des Gotteshauses lässt
sich ein Grabmal öffnen, durch das zahlreiche dunkle Wesen schlüpfen, die keinerlei
Spuren zu hinterlassen scheinen. Dort unten, in nahezu völliger Dunkelheit,
soll sich der Wunsch erfüllen können und der Erzähler seinen Vorfahren nahe
rücken. Zu diesem Zwecke bräuchte er nur einen geflügelten Bastard zu besteigen
und mit ihm in die Finsternis zu fliegen. Aber seine innere Stimme hält ihn
davon ab, sich in den totalen Wahnsinn hineinkatapultieren zu lassen. Während
die dunklen Wesen, welche als Menschen durchgehen mögen, allesamt ihre Reise
in ungeahnte Seelenschmerzen antreten, weigert sich der Hauptprotagonist und
stürzt sich vielmehr in ein schreckensgeweihtes Totenmeer. Am Ende landet er
in einem Krankenhaus, nachdem er im Hafen von Kingstown aufgefunden worden ist.
Zum Unterschied zu Der Hund beschließt der Erzähler nicht, sich das Leben
zu nehmen. Stattdessen fällt er in ein schweres Delirium, und es mag für ihn
unmöglich sein, wieder in sein "langweiliges" Leben zurück zu kehren.
Das Bestimmende, ja Kuriose an beiden Geschichten ist die Flucht eines Menschen
aus der Langeweile in den Schrecken der Finsternis. Es mag wie eine Reise in
die tiefsten Geheimnisse des Menschen angelegt sein. Wenn der Mensch Abstand
nimmt vom Alltäglichen, von der Harmlosigkeit eines Lebens, das nicht von der
Stelle zu kommen scheint, vermag er sich in die grauenhaftesten Geheimnisse
seines Ich hinein zu stürzen, von denen er sich gemeinhin nur schwer erholen
kann. Die Fratze, die sich im Spiegel zeigt, ist die
dunkle Seite des Menschen. Er reflektiert nicht mehr die Oberfläche, sondern
die Tiefenschärfe dunkler Kerker.
Zudem werden die
grauenvollen Gedichte The cats, The wood und Festival von Simon
Newby rezitiert. Hier ist der Wahnsinn auf wenige Zeilen komprimiert, wobei
Dunkelheit, Todesfürsten und der tragische Bruch der Alltäglichkeit wiederum
entscheidende Aspekte darstellen.
"Das Orchester der
Schatten" macht aus den Erzählungen und Gedichten von Lovecraft eine
einzigartige Klangfülle. Die düstere, grauenvolle, vom Wahnsinn beherrschte
Welt des Autors bahnt sich einen Weg durch die Gehörgänge bis in die Seele des
Lauschers. Es ist wie ein Erwachen aus einem Alptraum, das am Ende der CD für
den Hörer erfolgt. Wird er sich wieder losreißen können aus dieser abartigen,
von Skeletten, Monstern, und Leichen bevölkerten Landschaft? Hierzu ist es wohl
notwendig, nicht zu stark in die Texte des Autors hinein zu geraten. Denn es
sind Abgründigkeiten, die sich nicht verselbstständigen sollten.
H.P. Lovecraft (20. August
1890-15. März 1937) litt Zeit seines Lebens unter Geldmangel. Die Kunst des
Schreibens war für ihn mit kommerziellen Interessen unvereinbar. Somit
versuchte er auch so gut wie überhaupt nicht, seine Texte Verlagen anzubieten.
Er lebte von Auftragsbearbeitungen von Manuskripten anderer Schriftsteller. Erst
posthum erlangte er Ruhm, für den sein Freund August Derleth verantwortlich
zeichnet. In dessen Verlag "Arkham House" (benannt nach einer fiktiven
Stadt von Lovecraft) erschienen sämtliche Geschichten des Autors. Lovecraft war
erklärter Atheist und Materialist, was aus den zwei beschriebenen Geschichten
eindrucksvoll hervorgeht. Seine phantastischen Texte waren dennoch mit
grauenhaften "Gottheiten" bevölkert. Obzwar in vielen Erzählungen
Vorurteile gegen Minderheiten zu Tage treten, heiratete er eine jüdische
Russin. Der Autor ist nach seinem frühen Tod insbesondere in den USA eine
Kultfigur geworden.
Die schrecklichen, abgründigen
Vorstellungen von H.P. Lovecraft werden mit dieser CD gebührend gewürdigt. Der
Wahnsinn schafft sich einen weiten Raum und könnte Angst verbreiten, wenn der Hörer
sich davon im Übermaße berühren ließe. Der Rezensent rät den zukünftigen
Besitzern der CD, eine unsichtbare Grenze zum Szenario des Irrsinns zu ziehen, da
ansonsten das möglicherweise vorhandene seelische Gleichgewicht gefährdet
scheint.
Unabhängig davon sind die Texte des Autors in einer morbiden Klangwelt
kongenial umgesetzt worden.
(Al Truis-Mus; 10/2005)
H.P. Lovecraft: "Der Ruf des Dämon"
Musik: Matthias Manzke, Stephan Wolff und "Das Orchester der Schatten".
Deutsch-englische Lesung. Sprecher: Simon Newby, Simon Jäger.
Eichborn / LIDO, 2005. 2 CDs, Laufzeit 148 Minuten.
ISBN 3-8218-5391-3.
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Lien zum "H.P. Lovecraft Archive" (in englischer Sprache):
https://www.hplovecraft.com/.
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kosmische Schrecken"
Sechs der besten Geschichten vom Altmeister des Horrors in völlig neuer Übersetzung.
Zusätzlich enthalten sind Lovecrafts Notizen zu "Der Schatten über Innsmouth"
und eine verworfene Fassung dieser unheimlichen Novelle, sowie ein ausführliches
Nachwort zur deren Entstehungsgeschichte, geschrieben von den amerikanischen
Fantastikexperten S. T. Joshi und David E. Schulz. Inhalt: "Die Ratten im
Gemäuer"; "Das Ding auf der Schwelle"; "Dagon";
"Der Flüsterer im Dunkeln"; "Der Außenseiter"; "Der
Schatten über Innsmouth". (Festa)
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H.P. Lovecraft: "Namenlose
Kulte"
Horrorgeschichten. Inhalt: "Der Ruf des Cthulhu"; "Die Katzen von
Ulthar"; "Pickmans Modell"; "Der Schrecken von Dunwich";
"Celephais"; "Aus dem Jenseits"; "Das Weiße
Schiff"; "Der Tempel"; "Herbert West - Reanimator";
"Jenseits der Mauer des Schlafes"; "Die Farbe aus dem All";
Robert H. Barlow: "Erinnerungen an H. P. Lovecraft". (Festa)
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H.P. Lovecraft: "Der
Flüsterer im Dunkeln"
Außerirdische Kadaver schauderhafter Kreaturen in den Bergen Neuenglands? Die
umfassende Korrespondenz zwischen Dr. Wilmarth und Mr. Akeley ist fesselnd und
der Wahnsinn schwebt leise über den Köpfen. Der unterschwellige suggestive
Horror lässt den Hörer den Atem anhalten. Die Erzählung raffiniert und
subtil, spannend ohne Entspannung und dabei besser als jeder Horrorfilm. (Lübbe
Audio; gekürzte Lesung; Sprecher: David Nathan, Torsten Michaelis)
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H.P. Lovecraft: "Die
Literatur des Grauens"
Die Geschichte der fantastischen Literatur von der Antike bis in seine Zeit
ist Gegenstand dieses eminent wichtigen Essays des amerikanischen Autors. Mit
dieser meisterlichen Studie bewerkstelligt Lovecraft die Gratwanderung zwischen
wissenschaftlichem Anspruch und geistreicher Unterhaltung. "Die Literatur
des Grauens" gilt unter Literaturwissenschaftlern und Kennern als die bis
heute beste kurzgefasste Darstellung des Genres. (Edition Phantasia)
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"Howard Phillips Lovecraft: Gesammelte
Werke. Werkgruppe I: Erzählungen. 5 Bände"
Die erste Werkgruppe dieser Ausgabe umfasst in fünf Bänden sämtliche Erzählungen
die Lovecraft alleine verfasst hat. Neben den berühmten Horrorgeschichten sind
auch bislang im deutschen Sprachraum noch unbekannte Juvenilia, Abenteuergeschichten
und Parodien enthalten. Die Textveröffentlichung basiert auf der Grundlage der
bestehenden deutschen Übersetzungen. Diese werden genau geprüft, falls
erforderlich ergänzt, revidiert und mit den Textfassungen letzter Hand des
Autors abgeglichen. Der Lovecraft-Experte Dr. Frenschkowski hat jedem Text eine
kleine Einführung vorangestellt, in der Entstehungsgeschichte sowie andere
Aspekte zum Verständnis dargestellt werden. Jeder Band enthält zudem eine
vollständige Bibliografie der deutschsprachigen Veröffentlichungen. (Edition
Phantasia)
Bände
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Lyon Sprague de Camp: "H.P. Lovecraft - Eine Biografie"
Der bekannte Autor Lyon Sprague de Camp schrieb die große Biografie über den
Meister des Modernen Horrors - eine sensible, kritische Reverenz an einem
Menschen voller Widersprüche. (Festa)
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Michel Houellebecq: "Gegen
die Welt. Gegen das Leben. H.P. Lovecraft"
Houellebecq setzt sich mit dem amerikanischen Kultautor der fantastischen
Literatur auseinander, und bereits hier findet sich, was seine späteren Romane
prägt. Michel Houellebecqs "erster Roman" kennt nur eine einzige Hauptfigur:
H. P. Lovecraft selbst. Mit dem Romancier von visionärer Kraft und dem Menschen
setzt er sich subtil auseinander, analysiert seine Außenseiterstellung und
stößt auf die Quellen seines Rassismus. (DuMont)
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