Nicol Ljubić: "Heimatroman oder Wie mein Vater ein Deutscher wurde"
Spurensuche in einem bewegten
Immigrantenleben
Der Journalist Nicol Ljubić
kennt seinen Vater Drago so gut oder schlecht, wie Söhne ihre Väter eben kennen.
Als der Sohn selbst Vater ist, beginnt er sich für die Hintergründe jener von
Dragos fantastischen Geschichten aus seinem Leben zu interessieren, die ihm seit
seiner Kindheit vertraut sind, und die er nie recht glauben mochte. Die meisten
von ihnen handeln von Dragos heimlicher Flucht aus Jugoslawien ab 1959, die eher
zufällig in Deutschland endete. Also nimmt der Sohn den mittlerweile
körperbehinderten Vater mit auf eine Reise. Ihre Spurensuche führt sie in die
Orte, in denen Drago Ljubić
auf seinem Weg nach Deutschland Station machte; zunächst nach Zagreb, wo er
aufwuchs, und wo er noch Verwandte hat, dann nach Italien, wohin er sich
absetzte, auf der Suche nach seinem in Frankreich lebenden Bruder oder
vielleicht nach dem Abenteuer Westen. Sowohl in Italien als auch in Frankreich
finden sich trotz gelegentlicher Fehlschläge Zeugnisse für die scheinbar
unglaublichen, spannenden und herrlich nostalgischen Erinnerungen des Vaters:
alte Bekannte und frühere Vorgesetzte, Gebäude, Fotos, Zeitungsartikel, und
allmählich setzt sich so ein Bild zusammen von einem sehr bewegten Leben, das
manche Überraschung bereit hielt - bis Drago sich in Paris in ein deutsches
Au-Pair-Mädchen verliebte und ihm nach Deutschland folgte. Drago passte sich
umgehend an das deutsche Leben in einer Doppelhaushälfte an, mit Vereinsleben
und Gartenidyll, und wurde ein überzeugter Deutscher. Gleichzeitig gelang ihm
ein eher amerikanischer Traum; er arbeitete sich vom Automechaniker zu einem
gefragten, international eingesetzten Flugzeugtechniker der Lufthansa
hoch.
Die Nacherzählung der Reise von Vater und Sohn erweist sich schon
allein wegen des abenteuerlichen Unterfangens selbst als kurzweilige Lektüre.
Was kann wohl geblieben sein nach 45 Jahren Wirtschaftswachstum und Alterung?
Bereits in Zagreb droht der Sohn den Mut zu verlieren, weil die vielen
Veränderungen die alte Welt seines Vaters oft hoffnungslos überlagern, und weil
Drago die körperlichen Strapazen der Reise nur schwer erträgt. Aber die Suche
lohnt sich. Und Nicol Ljubić
versteht es, überraschende Begegnungen, Momente des Rätselns und des
Wiedererkennens sowohl packend als auch einfühlsam zu schildern. Während der
Autofahrten und in den Hotels grübelt er über die eigenartige Verbindung
zwischen seinem Vater und ihm selbst nach, über die Freuden, die sie einander
geschenkt, und kleine Wunden, die sie sich gegenseitig zugefügt haben, über
nicht gestellte, bedeutsam erscheinende Fragen an den Vater und die vielen
kleinen und großen Eigenheiten der Vater-Sohn-Beziehung. Humorvoll untersucht
der Autor, warum, inwiefern und seit wann sein Vater sich als Deutscher versteht
- und dieser identifiziert sich mit seinem Deutschsein wesentlich mehr als die
meisten gebürtigen Deutschen -, und ob er seine regelrecht preußischen Tugenden
bereits in Jugoslawien besaß oder sie sich erst mit der Zeit in Deutschland
aneignete.
Das Buch bietet daher auch interessante Ansätze zu schwierigen
Themen wie Patriotismus, Integration,
Ehen zwischen Deutschen und Ausländern sowie Definitionen von "typisch deutsch" oder "typisch südländisch"". Nicol
Ljubić enthält sich jedoch nach Möglichkeit einer Wertung und stellt den individuellen
Aspekt des Lebenswegs seines Vaters in den Vordergrund.
Zahlreiche Fotos,
überwiegend aus der Zeit von Drago Ljubićs
spannender Odyssee durch Mittel- und Westeuropa, zum Teil auch von Stationen der
aktuellen Reise, sowie Übersetzungen von Zeitungsartikeln illustrieren die
originelle und immer auch nachdenklich machende Geschichte auf charmante und
sehr persönliche Weise - ein rundum gelungenes Buch, das auch als Ansporn zu
einer Spurensuche in der eigenen Familie dienen kann. Denn, das beweist Drago
Ljubić,
die spannendsten Geschichten schreibt nun einmal das Leben selbst.
(Regina Károlyi; 03/2006)
Nicol Ljubić:
"Heimatroman oder Wie mein Vater ein Deutscher wurde"
DVA, 2006. 214
Seiten.
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Nicol Ljubić,
geboren 1971, lebt in Berlin.
Weitere Bücher des Autors
(Auswahl):
"Genosse Nachwuchs"
Was erwartet
einen jungen Menschen, der genug hat vom Jammern und sich politisch engagieren
will? Der 32jährige Ljubić führte Tagebuch über Wahlkampf und Filz und Leidenschaft an der
SPD-Basis. Ein Zeitdokument zum Lachen und Verzweifeln.
Dieser ebenso
kritische wie amüsante Erfahrungsbericht führt den heutigen Politikbetrieb
jenseits von Christiansen und Leitartikeln vor Augen: den politischen Alltag an
der Basis. 40.000 Parteiaustritte und seine Freunde konnten ihn nicht abhalten:
Ein junger Mann Anfang Dreißig macht sich auf in die Niederungen der SPD. Er
lernt die Bedeutung von
Bier kennen, lässt sich vom Bundestagspräsidenten
anbrüllen und von wütenden Bürgern beschimpfen. Genosse Ljubić
aber hält durch. Denn wer, wenn nicht er - der
Nachwuchs! - wird morgen die Welt regieren?
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"Mathildas Himmel"
Es sei an der Zeit, einige Dinge zu tun, die ihr Vater nie
geduldet hätte, sagt Mathilda zu ihrer besten Freundin.
Julia ist die
Einzige, mit der sie noch Kontakt hält, seit sie an dem Morgen nach ihrem
achtzehnten Geburtstag wortlos das Haus ihrer Eltern verlassen hat - verletzt
von der Mitteilung ihres Vaters, dass sie nicht seine Tochter ist. Die Wochen
und Monate nach ihrer Flucht in die Großstadt Hamburg sind bestimmt von dem
Willen, die Wunde ihrer Biografie zu schließen: mit
Sex, mit Euphorie und
Schmerz, mit Neugier, Trotz und Wut - auch über ihren Adoptivvater. Alles, was
sie unternimmt, soll ihn verletzen: die erotischen Spiele mit Lukas, einem
Kollegen aus dem Restaurant, während sie den verliebten Daniel ignoriert. Ihr
ärmliches Zimmer bei Frau Jeske, deren Geschichten aus einem traurigen Leben sie
lauscht. Die kleinen Aushilfsarbeiten, mit denen sie ihr Leben finanziert. Doch
je länger Mathilda weg ist, desto blasser wird der Schmerz der Erinnerung,
Nachdem sie mit Julia quer durch Europa gereist ist, kehrt sie für kurze Zeit
nach Hause zurück - um dann schließlich für immer gehen zu können.
(Eichborn)
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Noch ein
Buchtipp:
Tzveta Sofronieva, Natascha Wodin, Mohammad Aref, Jefferson S.
Chase, Zoran Drvenkar, Richard Duraj,
Catalin Dorian Florescu,
Radek Knapp,
Nicol Ljubić,
Selim Özdogan: "Feuer, Lebenslust! Erzählungen deutscher
Einwanderer"
"Man wird sie als Werkzeug betrachten, sie eine Zeitlang
gebrauchen und endlich wegwerfen, oder wenigstens vernachlässigen", so
Goethe
mit berechtigter Sorge über Eingewanderte. Zehn Gründe gegen diese Einschätzung
liegen gegenständlich vor mit Texten, die Lebensglut neu entfachen und die Weite
der Welt zu uns bringen.
Aus ironischen, temperamentvollen und zärtlichen
Plädoyers für das Feuer und die Lebenslust in den Herzen und Köpfen entstand ein
erfrischender Erzählband im Land der ewigen Unzufriedenheit. (Klett-Cotta)
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