Till Lindemann: "Messer" 

Gedichte


Lilja wächst in einem trostlosen Ort der ehemaligen Sowjetrepublik auf. Schon in der ersten Szene hat sie angsterfüllte Augen und läuft verwirrt durch die Straßen von Schweden. Was den Anfang des Films "Lilja 4-ever" so unglaublich tragisch macht, ist die Verbindung der ausweglosen Flucht eines jungen Mädchens mit der verstörenden Musik einer Band aus Deutschland, die sich "Rammstein" nennt. Der aus der CD "Mutter" ausgekoppelte Song trägt den Titel "Mein Herz brennt" und ist so aufwühlend, wie es der ganze Film ist. Einem Mädchen wird der Himmel auf Erden versprochen, wenn es den Mann, der sie zu lieben vorgibt, nach Schweden begleitet. Am Flughafen wird sie von einem zwielichtigen Mann abgeholt, der sie schließlich dazu zwingt, als Sexsklavin zu arbeiten. Es ist verstörend und unfassbar, was Lilja im Laufe ihrer Zeit in Schweden erleben muss. "Mein Herz brennt" von "Rammstein" wird sie am Ende des Films nochmals begleiten, wenn sie zu sterben beschließt.

Der Leadsänger von "Rammstein", Till Lindemann, hat Texte geschaffen, die weit über die Demaskierung einer Gesellschaftsutopie hinausgehen. Es mag Menschen geben, die eine ausweglose Flucht eines Mädchens aus der Hölle gleichgültig betrachten, und mit dem Gefühl aus dem Kino gehen, ohnehin nur stille Beobachter des Martyriums einer Minderjährigen geworden zu sein. Ebenso mag es Menschen geben, die ein wenig angewidert die Seiten umblättern, auf denen eine artifizielle Welt abgebildet ist, die von Zeilen begleitet wird, an denen die eigentliche Welt nicht genesen will. Till Lindemann schreibt nicht für Liebhaber der "schönen Lyrik". Noch weniger ist er bereit, Experimente auf die lesenden Menschen los zu lassen. Was er tut ist viel einfacher und gleichzeitig ungeheuerlicher: Er verstellt sich nicht, weist sich keine Rolle zu, erschafft keine Fantasiewelt, in der sich Mann und Frau in Rausch lieben können, triumphiert nicht über die Belanglosigkeit stumpfsinniger, selbstverliebter Scheinmenschen. Nirgends lässt sich ein Urteil ablesen. Überall finden sich kleine Teilchen Menschenfleisch, die gegeneinander leben müssen. Im Grunde genommen sind es trostlose, grauenhafte Geschichten wie jene der psychisch und physisch vernichteten Lilja im beschriebenen Film, die auf Papier gebracht wurden. Ein guter Freund von Till, Gert Hof, hat aus über 1000 Gedichten, die in den Jahren 1995 bis 2002 entstanden, einige herausgepickt, die jenes Szenario schaffen, das die bigotte Welt in einen Feuerball kurz vor der Implosion verwandelt. Es sind schwere Geschütze, die aufgefahren werden. Aber es ist kein absichtsvolles Delektieren an der Grauenhaftigkeit, die Leben in sich finden kann.

Es ist eine Komposition, die sich offenbart. Die Gedichte sind eng miteinander verwoben, und ohne doppelten Boden schweben sie in der Versuchung, Leben und Tod mit bluttriefenden Stricken aneinander zu binden. Diese Verbindung löst sich nur momentan auf, um sogleich wieder ein Massaker heraufzubeschwören. In die giftige Frucht als Kern eingesetzt ist die Liebe, die sich als Illusion einer trostlosen Erscheinung am Himmel abzeichnet, welche nur durch ein Messer von den Stricken des Suizids abgetrennt werden mag. Das Leiden an der Liebe ist keine sinnlose Suche nach Entsprechung, sondern im Gegenteil die Erkenntnis der Unmöglichkeit dieser Entsprechung.

Till Lindemann lässt mit seinen Gedichten die Knetmasse Leben eine neue Bewertung erfahren. Das völlige Fehlen eines Ausweges aus dieser eindimensionalen Daseinshölle begünstigt die artifizielle Beliebigkeit des Menschen als Fantasieprodukt eines unbequemen Gottes. Aus einer unbekannten Höhe erfolgt die Bewertung der Zustände, die zusammengezählt gemessene Daseinsberechtigung ergeben. Es werden Märchen erzählt, die nichts mit Märchen zu tun haben. Es werden Liebesgeschichten erzählt, die nichts mit Liebesgeschichten zu tun haben. Das Leben erfährt eine neue Konstante, die nur der Wahnsinn erklären kann. Die Tiefen werden ausgelotet. Die Sprünge werden offenbar. Die Lust am Leben eingemottet.

Nur selten geschieht es mir, dass ich ein Buch in einem Zug auslesen muss. Bei diesem ungewöhnlichen Gedichtband war es so. Ich musste die unfassbaren Dinge auf mich zukommen lassen. Es bricht etwas auf, das nicht erklärt werden kann. Viele Leser sollten auf die Suche gehen und diese Milchstraße erkunden, auf der Messer in Blut getaucht sind. Der Spaziergang ist kein angenehmer; lässt aber vielleicht ein wenig von der vernichteten Lebensenergie eines Menschen durchblitzen, der so gerne eine Chance erhalten hätte. Für mich ist es Lilja: Es sind die Menschen, die nirgends gehört werden. Es sind die Menschen, die von einer Maschine zermalmt werden, die nur machtgeile, sich selbst vergötternde Unmenschen erschaffen konnten.

Till Lindemann lässt einblicken in Schwermut. Er hat kein Mikroskop bei sich, das die Menschen unter die Lupe nimmt, sondern zeigt die zersetzende Kraft der Lupe selbst.

Mädchen tot

Da liegt sie nun
Steif wie ein Brett
Hat keine Koffer unterm Bett
Liegt so kalt am Waldesrand
Gemeuchelt durch die eigene Hand
Ihre Augen ohne Schein
Sie wird nie wieder siebzehn sein

Es ist eine traumatische Energie, die dem Leser zufließen kann, wenn er sich den Gedichten von Till Lindemann ergibt. Das Schlusswort soll Gert Hof haben, der in seinem Vorwort anklingen lässt, in Zukunft weitere Gedichtbände des Leadsängers von "Rammstein" herausgeben zu wollen: "In einer Zeit, in der die deutsche Gegenwartslyrik zu einem pseudointellektuellen Doppelbären im Zwickauer Zoo verkommen ist, wirken die Verse von Lindemann wie ein Sturm aus Flammen, der hoch aus dem Norden über eine Oase aus Nacht fegt. Sprengsätze voller Kompromisslosigkeit und Kraft aus einem organischen Herzschrittmacher. Es sind Tunnel aus den Schreien verbrannter Zeit. Ein moderner Exorzismus, der uns zu den Venen unserer Seelen führt. Echos, gemeißelt in die Wände unserer Schmerzen. Poesie ohne Rückkehr, die sich wehrt. 

(Jürgen Heimlich; 12/2002)


Till Lindemann: "Messer"
Eichborn, 2002. 176 Seiten. Durchgehend vierfarbig illustriert.
ISBN 3-8218-0927-2.
ca. EUR 29,90.
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