Hrsg. Konrad Paul Liessmann: "Der listige
Gott"
Über die Zukunft des Eros
Es ist das größte
Ärgernis für die menschliche Gemeinschaft, dass man
die Beziehung von Männern und Frauen nicht auf Sex basieren
kann. Die Welt wäre in Ordnung - das heißt ihre
Ordnung wäre, im Jargon der sechziger Jahre gesprochen,
"repressionsfrei" -, wenn die Sexualtriebe kraft ihrer eigenen Dynamik
imstande wären, "dauerhafte erotische Beziehungen unter reifen
Individuen zu stiften." Dann könnte man Sein im Horizont von
Eros denken - statt im Horizont von Logos (Platon) oder von Zeit
(Heidegger) oder von Mangel (Lacan) - und glücklich leben. Das
geht aber nicht, wie zuletzt die 1968er-Generation erfahren musste, und
deshalb ist die Welt nach wie vor aus den Fugen. We didn't start the
fire.
(Norbert Bolz; aus "Der listige Gott - Vom Platonischen Eros zur
Designer-Erotik")
Krisenanfällig
ist des Menschen irdisches Dasein und in permanenter Krise befindet
sich, was Freude im Hier und Jetzt vermitteln sollte. Die Rede ist -
wie könnte es anders sein - vom Eros, dem listigen Gott (oder
struppigen Dämon), dem obszöne Nacktheit und eine auf
genitale Verfügbarkeit hingetrimmte Sexualität
brünstiger Gebärden beständig das Wasser
abgräbt. Elf Philosophen - darunter so prominente Namen wie Rüdiger Safranski
und Konrad Paul Liessmann - haben sich dazu im Rahmen des
alljährlichen Philosophicum Lech, veranstaltet von der
Gemeinde Lech in Vorarlberg, ihre mehr oder minder aufreizenden
Gedanken gemacht. Gegenständliches Buch gibt wieder, was im
Zeitraum 13.-16. September 2001 in Lech am Arlberg angedacht wurde.
Es dürfte nicht weiter verwundern, wenn ausgerechnet
Philosophen zu dem Schluss kommen, dass wahrer Erotik auch immer ein
geistiges, kontemplatives Moment innewohnt und diese sich typisch als
aufreizendes Wechselspiel von Gesten des Versagens und Verlockens
darstellt, nie jedoch als geile
Darreichung
blanker Körperlichkeit, die zwar das Lustorgan erregen
mag, doch keineswegs unbedingt erotisch sein muss. Der Zug der Zeit ist
rasche Verfügbarkeit von williger Hingabe, die sich selbst die
Kleider vom Leibe reißt und nach vollzogenem Geschlechtsakt
so rasch abtritt, wie sie angetreten ist. Dummheit stört in
diesem Zusammenhang nicht; ja, viel mehr, ist sogar betörend.
Sollt' doch kein Gedanke die sexuelle Praxis geistlosen Kopulierens
stören. Und eben darin ist Glanz und Elend erotischer
Gesellschaftspraxis zu sehen; sie, die Erotik, wird als verhaltenes
Begehren (als platonische Anschauung von Ideen) von allzu hektischen
Sexualpraxen verdrängt, deren verbindliches Stilmuster die
Ästhetik der Pornographie ist. Denn
Eros hat ganz wesentlich mit Sinn,
Sinnlichkeit und der Idee des Schönen wie auch dem Streben
danach zu tun
und vergegenständlicht sich in letzter Konsequenz im
voyeuristischen Blick einer zur Ruhe gekommenen Begierde.
Die Gegenwart erotischer Praxis diagnostiziert sich als triste und
krisengeschüttelt, weil sexualisiert. Und so wendet sich der
Philosoph in liebgewonnener Übung der klassischen Philosophie
des antiken Griechenland zu, vorliebend und konkret dem
denkwürdigen "Symposion" des Philosophen
Platon,
welches noch immer als Klassiker erotischer Literatur zu erachten ist.
In seinem Beitrag "Der erkaltete Eros" führt Rüdiger
Safranski den besonderen Charakter von einem "Symposion" aus:
Das "Symposion" bezeichnet eine ganz
bestimmte Form des philosophischen Gelages, mittels der erotisch verbundene
Männer sich auf Sinne anregende Weise ihren Diskurs
über den Eros als edlen Wettstreit organisieren.
Zugangsvoraussetzung ist vom Wahnsinn des Eros ergriffen
zu sein, weil diese Ergriffenheit einfach notwenig ist, wenn man
angemessen von ihm reden will. Die Teilnehmer des Gelages
entwickeln in gehobener Stimmung Theorien, wie man Kränze flicht.
Plausibel müssen sie sein, aber auch schön - erst
dann können sie Anspruch auf Wahrheit erheben. Der Austausch
von Zärtlichkeit, trinken, speisen, hören von Musik
gehört dazu, denn der Eros muss selbst die Rede über
den Eros beflügeln.
Nun so mag's auf dem fünften Philosophicum in Lech wohl nicht
zugegangen sein. Zumindest hat sich kein mit Pin-up-Girls gepushtes
Gossenblatt über verwilderte Sitten auf dem Philosophentreff
mokiert. Man führte eben nur gelehrte Vorträge
über Elend und Verfall erotischer Kultur, die sich, so scheint
es fast, nun schon seit zweieinhalbtausend Jahren in Elend und Verfall
befindet, denn beginnend bei den alten Griechen bis in unsere Tage
hinein wird darüber in Permanenz Klage geführt. Das
unglückliche Bewusstsein sexueller Dekadenz hat Tradition, und
so wundert nicht, dass besonders sensible Menschen mit sexuellem
Entfremdungsempfinden in den fortgeschrittensten Gesellschaften
nördlicher Hemisphäre
anno 1968 zur sexuellen
Revolution aufgerufen haben. Die ideologischen Mentoren jener sexuellen
Revolte waren die beiden abtrünnigen Freudianer Herbert
Marcuse ("Sexfront-Bewegung") und
Wilhelm Reich ("Sexpol-Bewegung"), die zu jener
Zeit noch als Kämpfer gegen den Mief
kleinbürgerlicher Sexualordnung gefeiert wurden, heute
hingegen in den Augen kritischer Philosophie kaum noch Gnade finden. So
bemängelt Mariam Lau in "Phantastisch leben - Kleine
Schadensbilanz der sexuellen Revolution" Marcuses Neigung zum Grotesken
(Subversion als einzig legitime Lebensform, demnach
bestimmte sexuelle Orientierungen als Formen politischen Widerstands
auszulegen sind) und konstatiert bei Herbert Marcuse wie auch bei
Wilhelm Reich ein reaktionäres Ressentiment gegen die
städtischen Umgangsformen unserer Metropolenkultur, welche, um
vor unmittelbarer Aggression und Begehrlichkeit zu schützen,
das Authentische (und somit auch die Liebesfähigkeit) unter
einer Schicht "gemachter Sozialität" tief begraben habe.
Selbst noch der Individualismus - auf den, als Entfaltung
unverwechselbarer Exzentrik gedeutet,
souveräne
Lebensästheten von heute so stolz sind - stellt
für Reich eine bloße Deformation dar, Folge einer
Charakterpanzerung, die es im Orgasmus aufzusprengen gilt (der sexuell
gesunde Mensch ist ganz und gar Gattungswesen, ohne auffällige
Züge des neurotisch Individuellen an sich). Gelungene
Sexualität bedeutet für Wilhelm Reich in erster Linie
erfüllte Genitalität verbunden mit einer Haltung
sexuell permanent bereiter Körperlichkeit und führt
somit weit weg vom verhaltenen Begriff des Eros, welcher mit geizenden
Andeutungen von Nacktheit lockt, die Phantasie des Begehrenden
aufreizt, seinen Geist in poetische Leidenschaft hineintrudeln
lässt und - wenn überhaupt - einen langen Umweg bis
zur orgastischen Erfüllung beschreitet. Doch ständige
triebhafte Begierde und willenlose Verfügbarkeit um des
gelungenen Orgasmus wegen erniedrigt den Menschen und führt
hin zu einer Praxis ekelerregender Ausschweifungen sowie dann auch
noch, als Folge des daraus resultierenden (Selbst)Ekels, zu einer
Haltung der moralischen Verdammung lustorientierter Sinnlichkeit.
Beispiele dafür gäbe es zu Haufe, und gerade
besonders triebhafte wie gleichsam sittliche Charaktere litten unter
ihrer sexuellen Praxis blanker Fleischeslust, die, mangels erotischer
Momente, auf das Krasseste im Gegensatz zu ihrer sonstigen geistigen
Berufung stünde. Exemplarisch für dieses Elend
wäre Leo Tolstoj zu nennen, welcher in seiner "Kreutzersonate" allen Hass auf sein nimmersattes
Verlangen nach dem Geschlechtsverkehr zu Papier brachte und
Sexualität als kriminelle Energie auslegte, die, weil sie das
sittliche Wesen des Menschen verdirbt, es - nötigenfalls mit
strafrechtlichen Sanktionen - zu bekämpfen gelte.
Es ist erstaunlich, wie erotisch Philosophie sein kann; zwar nicht per
se, aber als Hinführung zum Erotischen, welches immer noch als
harmonische Zusammenführung von sehnendem Geist und
verhaltener Sinnlichkeit zu begreifen ist. Darüber
nachzudenken lohnt sich für eine Lebensführung, die
nach dem Schönen strebt, und führt zur Besinnung
über eine Alltagshaltung frivoler Fetischisierung nackter
Tatsachen. Wer Philosophie liebt, wird in diesem Buch einige Perlen
essayistischen Denkens finden und sollte nicht säumen seinen
Zugang zur Erotik geistig zu vertiefen. Erotik ist vor allem geistige
Liebe zum Schönen, die es als Lebenskunst zu erlernen gilt.
Anleitungen dazu enthält philosophische Literatur zwar nicht,
doch wer vertraut denn wirklich noch in die ach so heilsamen
Verheißungen von Lebensratgebern? Ernsthafte Philosophie will
den kritischen Herren seiner selbst und nicht den hörigen
Knecht gleichsam banaler wie meist ungeprüfter Empfehlungen
zur richtigen Lebensführung. Und für die Erreichung
dieses Ziels ist die Aufsatzsammlung der elf Denkerfürsten
noch allemal ein gelungener Beitrag, den es zu nutzen gilt.
Versäumen Sie nicht, dieses Buch zu lesen.
(Harald S.; 05/2002)
Hrsg. Konrad
Paul Liessmann: "Der listige Gott"
Über die Zukunft des Eros
Taschenbuch.
Zsolnay, 2002.
237 Seiten.
ISBN 3-5520-5189-9.
ca. EUR 17,90.
Buch
bestellen