Haymo Liebisch: "Anton Bruckner 1824 bis 1896 - einst und jetzt. Ein Bericht"
Eine undankbarere Aufgabe, als ein Buch über (vor allem) Leben und (in geringerem Ausmaße) Werk Anton Bruckners zu schreiben, erscheint mir wahrlich kaum vorstellbar. Bruckners Leben verlief, von seinen Leistungen abgesehen, ohne bemerkenswerte Begebenheiten und erscheint überdies in den ersten vierzig Jahren (also in einem die Hälfte übersteigenden Zeitraum) völlig unbedeutend, überdies mit dem späteren Schaffen in keinem erkennbaren Zusammenhang stehend. Ein paar skurrile Schnurren des alternden Meisters, ein paar Lichtblicke in seinem kargen und eintönigen Leben, wie seine Audienzen bei Richard Wagner (Dritte Symphonie!) und beim Kaiser, seine Sensationserfolge in Paris und London als Orgelimprovisator, also in Erfüllung einer im Grunde doch etwas bizarren Disziplin, weshalb diesen Erfolgen denn auch keinerlei Folgewirkung beschieden war, Tiefschläge wie ein paar bösartig-groteske Verrisse durch die Wiener Journaille, was war da noch?
Vielleicht der ungeschickte Liebesbrief an Josefine Lang, allen musikgeschichtlich gebildeten Jünglingen ein Musterbeispiel dafür, wie man NICHT um eine Frau wirbt, überhaupt das Scheitern jeglicher Heiratsbemühungen, das Nichtfußfassenkönnen in der Wiener Gesellschaft, die lange Vorenthaltung aller verdienten Anerkennung – im Grunde alles Nicht-Ereignisse, sein Leben bestimmend bis zum spät, zu spät einsetzenden Erfolg, dem sich umgehend die schleichende Todeskrankheit hinzugesellte. Noch dazu ist die Literaturfülle über dieses Leben, jede noch so kleine Begebenheit anekdotisch auslotend, alles andere als ermutigend.
Warum ein „alter Buchhändler und Antiquar“ (so das Vorwort in beinahe schon Brucknerscher Demut) von einem derartigen Unterfangen trotzdem nicht ablassen kann, ist dennoch schnell erklärt und zwar ganz einfach mit der Liebe zum beschriebenen Gegenstand, also zu Musik und Persönlichkeit des Anton Bruckner. Was also da herauskommen kann, wenn ein oberösterreichischer Dilettant im besten Sinne mit Unterstützung eines gleichfalls sowohl oberösterreichischen als auch brucknerbegeisterten Verlegers sich in landsmännischer Verbundenheit auf die Spuren des wohl größten (auf jeden Fall berühmtesten) Sohns seiner Heimat begibt, ist durchaus beachtenswert bis erstaunlich. Im Vorwort heißt es: „...aber die Entdeckung, neuen Materials und die Situation auf dem Buchmarkt selbst, die aufzeigt, dass so vieles vergriffen ist, ermutigte den Autor wieder. Auch konnte er, ...der Bruckners Sprache spricht, .... vieles an Hintergrund und Einflüssen eruieren, das bisher kaum in die Arbeiten über den großen Musiker eingegangen ist.“
Das Buch hält, was diese Zeilen versprechen. Liebisch zitiert aus vielen nicht nur der breiten Leserschaft unbekannten Erinnerungsberichten und Aussagen Dritter (so entdeckte er z.B. von Heuberger überlieferte, mir bisher unbekannte, durchaus positive Worte Brahms‘, oder Despektierliches von Richard Strauss in einem Brief an Karl Böhm). Der wertvollste abgedruckte Beitrag stammt von Bruckners letztem behandelnden Arzt, Dr Richard Heller und bietet eine Beschreibung Bruckners letzter Lebensmonate; ein Bericht, der durch die Entdeckung beziehungsweise Neubewertung des Finalfragmentes der Neunten, dessen Entstehung sich bis in diese Zeit erstreckte, zusätzlich an Bedeutung gewinnt (Liebisch schätzt dieses meines Erachtens grandiose Stück Musik allerdings nicht hoch ein, er vergleicht es an anderer Stelle mit einem Rohbau eines Hauses, wofür ihm hier entschieden widersprochen sei, wenn auch dieser Vergleich gar nicht so schlecht ist: Die karge, spröde Textur hat tatsächlich etwas beinahe Rohes, Unbehauenes an sich, allerdings gewollt und wesensimmanent, ganz sicher nicht aufgrund innerer Unvollendetheit. Immerhin ist Liebisch zugute zu halten, dass sich auch bedeutende Dirigenten und Brucknerforscher, allen voran Georg Tintner, mit dem Finalfragment gründlich getäuscht haben).
Auch dem Bildteil gebührt an dieser Stelle besonderes Lob: Er beinhaltet die vorletzte Aufnahme Bruckners, wie er vor dem Kustodenstöckel seine Ärzte verabschiedet, und zwar UNVERFÄLSCHT. Alle mir bisher bekannten Wiedergaben gingen offenbar von einer unerhörten nazistischen Manipulation aus (anders kann ich mir ‘s nicht erklären), die Dr Heller einfach WEGretouchierte. Auch ansonsten zeigt der Bildteil Abweichungen von anderen Werken und zwar in der Datierung der (vor allem späten) Aufnahmen. Wer hier recht hat, konnte ich nicht klären. Dass der Autor dem konservativsten Brucknerbild wie nur möglich anhängt, schadet nicht. SO sensationell waren die alternativen Betrachtungsweisen jüngerer Autoren wie M. Wagner und M. Hansen auch wieder nicht; Bruckners Person verlor durch sie überdies viel an Kontur und Farbe, mehr als durch den historischen Befund gerechtfertigt erscheint.
Mich stört auch nicht die an vielen Stellen äußerst drastisch zum Ausdruck gebrachte Privatmeinung des Autors zu geschichtlichen Ereignissen, denn jede extreme Sichtweise bietet die Möglichkeit, Neuzugänge zu gewinnen. Dies werden Bewunderer von Joseph II., Friedrich dem Großen und Bismarck wohl anders sehen, weshalb diese hier ausdrücklich gewarnt seien, um allfällige Tobsuchtsanfälle prophylaktisch abzumildern.
Die Anschaffung von Liebischs Buch kann nur empfohlen werden. Wer mehr und Tiefgründigeres über Bruckners MUSIK lesen möchte, sei als Parallellektüre auf Mathias Hansens „Anton Bruckner“, erschienen bei Reclam Leipzig 1987, zu dem Liebisch im Literaturhinweis anmerkt: „DDR! (Vorbehaltlich der dem Autor sicher aufgezwungen bornierten marxistischen Tendenzen)“, aufmerksam gemacht (sofern erhältlich). Beide Bücher ergänzen einander durch ihre Gegensätzlichkeit in Inhalt und Anschauung und geben so (vor allem miteinander!) eine überzeugende Alternative zur „gängigen“ Bruckner-Literatur ab.
(Franz Lechner; 07/2002)
Haymo
Liebisch: "Anton Bruckner 1824 bis 1896 - einst und jetzt. Ein
Bericht"
Ennsthaler. 2. Auflage 1996.
147 schwarz-weiß Abbildungen. 496 Seiten.
ISBN 3-85068-493-8.
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