Sigrid Lichtenberger: "Von Nähe und Abschied"
Gedichte
Mit Radierungen von Magdalene Bischinger
Jeder
Mensch kennt sie: Augenblicke der Nähe und des Abschieds, auch
die mit ihnen einhergehenden Empfindungen von Wonne und
Erfüllung, Sehnsucht, Leid und Wehmut angesichts der
Vergänglichkeit.
Doch ist die Zeit weder des Menschen Freund noch Feind, und nicht
zuletzt infolge der unabwendbaren Flüchtigkeit stellt die
Gegenwart des Einzelnen edelstes Gut dar. Bisweilen mag es verlockend
erscheinen, gleich Goethes Faust auszurufen:
"Und Schlag auf Schlag! Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!"
Verglichen mit den Folgen eines faustischen Paktes mutet
Gedichtlektüre regelrecht harmlos an. Mag auch geteiltes Leid
bekanntermaßen keineswegs halbes sein, geteilte Freud'
mitnichten die halbe - so verkünden doch von Dichterhand
gefertigte Momentaufnahmen menschlicher Gemeinsamkeiten und
Einsamkeiten in Versform mitgeteiltes Leid sowie mitgeteilte
Freude.
Erinnern In die fließende Zeit setze ich Worte ein Damm der Erinnern staut damit nicht alles stürzt ins Meer des Vergessens (Sigrid Lichtenberger) |
Erich Mühsam konstatierte in seinem
"Appell an den Geist": |
Sigrid
Lichtenberger, 1923 in Leipzig geboren, "zwingt" keineswegs ihre
sozialen Empfindungen in Worte, sondern schneidert aus Sprache
konventionell-beschauliche, eng anliegende Hüllen für
höchstpersönliche
Gefühlsäußerungen und Beobachtungen, ruhige
Oberflächen zum sekundenlangen Abtauchen während der
Lektüre.
Kurze, reimlose Gedichte in freien Rhythmen, allesamt ebenso leicht wie
schnell lesbar, umkreisen unterschiedliche Phasen von Nähe und
Abschied, begleiten das lyrische Ich in verschiedenen Situationen,
spiegeln es in einem mehr oder weniger konkret vorhandenen
Gegenüber, berühren Verborgenes und Offensichtliches,
Gleichbleibendes und Veränderliches.
Zum Thema "Veränderung" schrieb Immanuel Kant in seiner
"Kritik der reinen Vernunft":
"Veränderung ist Verbindung kontradiktorisch einander
entgegengesetzter Bestimmungen im Dasein eines und desselben Dinges.
Wie es nun möglich sei, dass aus einem gegebenen Zustande, ein
ihm entgegengesetzter desselben Dinges folge, kann nicht allein keine
Vernunft sich ohne Beispiel begreiflich, sondern nicht einmal ohne
Anschauung verständlich machen, und diese Anschauung ist die
der Bewegung eines Punktes im Raume, dessen Dasein in verschiedenen
Orten (als eine Folge entgegengesetzter Bestimmungen) zuerst uns allein
Veränderung anschaulich macht; denn, um uns nachher selbst
innere Veränderungen denkbar zu machen, müssen wir
die Zeit, als die Form des inneren Sinnes, figürlich durch
eine Linie, und die innere Veränderung durch das Ziehen dieses
Linie (Bewegung), mithin die sukzessive Existenz unser selbst in
verschiedenem Zustande durch äußere Anschauung uns
fasslich machen, wovon der eigentliche Grund dieser ist, dass alle
Veränderung etwas Beharrliches in der Anschauung voraussetzt,
um auch selbst nur als Veränderung wahrgenommen zu werden, im
inneren Sinne aber gar keine beharrliche Anschauung angetroffen wird."
Offenbar befleißigte sich Sigrid Lichtenberger der
Beharrlichkeit in der Anschauung, um "Nähe und Abschied"
nachzuspüren.
In ihren "Nachgedanken" schreibt die Autorin u.a.: "Gedichte stehen in
der Realität. Sie berühren sie sogar tiefer als
banale Worte, bringen eine Wahrheit ans Licht, die ungedeutet bleibt."
Indem Sigrid Lichtenberger behauptet, Gedichte stünden in der
Realität und würden diese sogar tiefer
berühren als "banale Worte", sitzt sie im Glashaus und wirft
mit Steinen, zumal sie keine Definition dessen preisgibt, was sie als
"banale Worte" brandmarkt. Vermutet sie etwa Gegensätze, wo
keine sind? Weder bietet Sigrid Lichtenberger in "Von Nähe und
Abschied" Sprachkreativität noch Sprachexperimente auf
(abgesehen vom Weglassen sämtlicher Satzzeichen), noch
überrascht sie mit unerwarteten Wendungen.
An dieser Stelle sei ausdrücklich auf Paulus Böhmers
reichhaltige Lyrik verwiesen (siehe Buchtipp weiter unten). Was dieser
Meister seines Faches (sogar unter Verwendung
"banaler", also "alltäglicher, abgenutzter" Worte!) zu
gestalten vermag, ist bspw. in "Fuchsleuchten" zu entdecken.
In sieben Kapiteln befasst sich Sigrid Lichtenberger also mit einigen
Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Brücken
vom Ich zum Du sowie zum Rest der Schöpfung zu schlagen:
"Weite - im All", "Nähe - ein Versuch", "Abschied - ist
überall", "Abschied - wird Erinnerung", "Abschied - und dann",
"Ende - oder Aufbruch" und schlussendlich "Anhang - Gedanken zur Zeit".
Ein Wermutstropfen eigener Art ist übrigens die optische
Aufmachung des Gedichtbandes: Die kurzen Gedichte kleben jeweils in der
linken oberen Ecke einer Seite, zudem wirken die von Magdalene
Bischinger beigesteuerten, unkommentierten und unbetitelten
Illustrationen auf dem groben Papier unscheinbar und lassen nur selten
Bezüge zu den Texten Sigrid Lichtenbergers erkennen.
Ob in "Von Nähe und Abschied" die Würze in der
Kürze liegt, sei der Beurteilung des geneigten Lesers
überlassen.
(kre; 10/2006)
Sigrid
Lichtenberger: "Von Nähe und Abschied"
Pendragon Verlag, 2006. 128 Seiten.
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Ein
Buchtipp:
Paulus Böhmer: "Fuchsleuchten"
Mit "Fuchsleuchten" schreibt Paulus Böhmer sein Werk fort, ein
lyrisches Werk, das ein einziges großes Buch Gedichte bildet,
alle Gedichtbücher ein einziges Buch, alle Gedichte ein
einziges Gedicht. Das nicht enden will.
Paulus Böhmers Gedichte sind nicht genügsam, sie sind
lang. Gern über zehn Seiten hinweg fließt der
Wortstrom und wird zu einer "Form des Atmens" (Thomas Hettche). Und er
wird zu Klang: Böhmers Gedichte sind nach musikalischen
Vorgaben konstruierte symphonische Gefüge. In ihnen findet
sich tiefste Trauer und immer Trotz und Zärtlichkeit.
Paulus Böhmer: "Wenn ich mir einen
Gott aussuchen
könnte, wäre es
Eros.
Und wenn es ihn gäbe,
wäre er in meinen Gedichten: In der leidenschaftlichen
Zuwendung an die Welt (und die Menschen, so furchtbar sie oft auch
sind)."
Leseprobe:
Wassermusik
(...)
3.
Vor großen Kämpfen versetzt sich das Wasser
durch Schlafentzug in einen hypnotischen Zustand,
mal ist sein Blick unscharf, schweift ab, verliert sich,
mal ist er hellwach, nähert sich gereizter Neugier
einer Bewegung, kreist einen Körper ein, verharrt.
Ninmt sich.
Augustinus
behauptet,
das neuronale Netz des Wassers sei
lateinisch
geprägt.
(Das erinnert mich an alte Männer,
die bei tierischer Hitze über die Blässe der Perlen
reden.)
Noch während wir reden, sterben
Millionen Aale den Liebestod, sinken in die Tiefen
der Bermudasee, ertrinkt ein Fräulein
mit großen Gnaden im Hafenbecken von Dieppe,
dehnen sich träge in ihren Lackhosen die Wellen des Po,
werden Inkluse, Harze, kostbare Eiweiße
vom auslaufenden Wasser ins Watt getragen,
jauchzen Filtrierer, Sedimentwühler, Strudler,
brechen Fluten aus einstürzenden Auslaugungen, aus Mangan-
knollen, Basalt, reißen Hebungen ein, Gehänge,
zerfetzen
Städte, fegen Büsche und Bäume zusammen,
läßt eine Kleine
flache Steine über die gespannte Haut
der Wasseroberfläche springen, lacht, jauchzt.
Warst das nicht Du?
Möwen
über dem Main, ein ersoffener Hund,
ein
Fest.
(Schöffling & Co.)
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