Leseprobe:

   Ich bleibe nun also auch noch an einen Apparat angeschlossen, der meine Pulsfrequenz als gelbe Zackenlinie auf einem Monitor abbildet und gleichmäßig piept, immer mehr Drähte führen aus meinem Körper in die Außenwelt. Als du kommst, zeigst du dich wenig begeistert. Hallo, sage ich, was ist denn los. Na was schon, sagst du und hast deinen ganzen Humor verloren, auf Fragen scheinst du nur noch mit Gegenfragen antworten zu wollen, wenn ich frage: Was hat der Chefarzt gesagt, erwiderst du maulfaul: Na was schon. Was soll er sagen. Du beginnst wieder mit den Wadenwickeln. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, sagst du. Ich finde, das ist eine Idee: Es geht womöglich ganz einfach mit dem Teufel zu. Darüber muss ich nachdenken. Doch mit welchem Teufel? Du, sage ich, ob es auch einen Teufel gibt, der stets das Gute will und stets das Böse schafft?

   Diesmal antwortest du gar nicht, wirfst mir nur einen Blick aus den Augenwinkeln zu, aber ihr irrt euch, nicht alles, was ich sage, kommt aus einer Fieberfantasie. Der Teufel, den ich im Sinn habe, ist der allervernünftigsten Vernunft entstiegen oder ihr in einem unbeobachteten geschichtlichen Augenblick entwichen, der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer, habe ich das nicht auch mal Urban entgegengehalten, der war gebildet genug, mich zu korrigieren, der Schlaf der Vernunft habe Goya sein Capriccio benannt; aber wenn ich partout auf Traum bestehen wolle: Es käme doch darauf an, wer träumt. Ja, zugegeben, wenn die kleinen Geister sich des Traumes bemächtigen ... Was dann, Urban, fragte ich ihn. Was dann? Dann hat die Vernunft nichts zu lachen, sagte er. Er ist mir die Antwort schuldig geblieben, aber ich bin sicher, in unseren beiden Gesichtern war der gleiche Ausdruck von Zweifel und Schrecken. Wir hatten Berichte über den Rajk-Prozess gelesen. Führte der Weg ins Paradies unvermeidlich durch die Hölle?

   Du erreichst einen leichte Fiebersenkung, heute willst du aber nicht gehen. Nach einer Zeit, die mir lang vorkommt, schicke ich dich weg, du sträubst dich, aber ich könnte doch ruhig hier schlafen, sagst du, ich störe doch nicht, ich sage: Geh, Lieber. Bitte geh.


... aus der Erzählung "Leibhaftig" von Christa Wolf; Luchterhand, 2002.
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