Leseprobe:
Meine
Mutter machte, als sie mich zu sich
nach
Salzburg holte, nicht nur einen Schritt auf mich, ihr Kind, zu, sondern
auch einen Schritt zu auf das Kind, das sie selbst gewesen war. Ihrer Meinung
nach erlöste sie mich damit auf ähnliche Weise, wie sie das kleine Mädchen in
sich erlöste, das in Holzschuhen vom Vater mit den Kühen auf die Winterweide geschickt
worden war und das sich mit bloßen Füßen in eine frische Kuhflade
gestellt und zu singen begonnen hatte, um sich gegen die Kälte allerorts zu wappnen.
Meine Mutter glaubte ein Leben lang daran, dass alles, was mir je im Leben gelang,
diesem befreienden Akt ihrerseits zu verdanken war, der mir ein anständiges Leben
überhaupt erst ermöglichte. All die Fremdheit, ja der zeitweise Hass zwischen
uns waren nichts gegen diese Tat, mit der sie mir - in ihren Worten - ein zweites
Mal das Leben geschenkt hatte. Alle Schuld, die sie, wenn überhaupt und ohne ihr
Wissen, auf sich geladen hatte, alle Fehler, die sie eventuell, und immer nur
das Beste wollend, begangen hatte, waren dadurch hinfällig.
Auf
dem Weg zum
Auto rückten sich die Verhältnisse wieder gerade. Die irritierende
Größe meiner Mutter war dahin. Ihre wegen ihrer konzentrierten Beiläufigkeit geradezu
einschüchternden Gesten passten sich der Atemlosigkeit an, die sie beim Gehen
aufgrund der zwischen die Lippen geklemmten Zigarette befallen hatte. Das vom
Einsturz bedrohte Skelett der einstigen Scheune baute sich vor uns auf. Meine
Mutter hielt ihren Kopf gesenkt und schien darauf zu achten, dass sie regelmäßig
einen Fuß vor den anderen setzte. Als ich, da mein Blick auf der Scheune ruhte,
ein wenig langsamer wurde, wurde der Druck, mit dem sie meine Hand festhielt,
größer. Sie wollte nicht, dass die Geschichte dieses Tages eine unerwartete Wendung
nahm. Dass sich alles ins Gegenteil verkehrte und sie sich an den Stätten ihrer
Kindheit, anstatt an ihnen vorüberzuschreiten wie bei einer Parade, vorbeistehlen
oder vor ihnen davonlaufen musste. Sie blieb stehen. Sie stellte die Reisetasche
ab, nahm die Zigarette aus dem Mund und beförderte sie in eine Ecke des Hofs.
Mich ließ sie dabei nicht los, sondern erhöhte noch einmal den Druck auf meine
Hand, sodass ich kurz aufschreien musste. Dann rief ich laut nach meiner Großmutter.
Ich spürte, dass dieser Verlauf der Geschichte, den ich so herbeigesehnt und für
den einzig richtigen gehalten hatte, in Wahrheit der falsche war. Ich wollte zu
meiner Großmutter zurücklaufen und zog am Arm meiner Mutter. Meine Mutter wuchs,
wie so oft noch, an meinem Widerstand, wie sie überhaupt an jedem wirklichen oder
eingebildeten Widerstand wuchs, den man ihr entgegensetzte. Sie zerrte mich durchs
Tor, riss die Autotür auf und verfrachtete mich mit jener Entschlossenheit auf
den Rücksitz, mit der sie sich zuvor der Zigarette entledigt hatte. Sie knallte
die Tür zu. Von meiner Position aus konnte ich ihren Kopf nicht sehen. Aber als
sie die Hand hob, wusste ich, dass sie sich noch einmal umdrehte und von Großmutter
verabschiedete. Großmutter hatte keinen Schritt, kein Wort auf mich zu gemacht,
als ich zu ihr zurück wollte. Ich war ihr nicht böse. Sie wusste einfach, dass
sie nichts mehr ausrichten konnte. Wie ich da, verpackt in rotes Blech und Glas,
an der Autotür herumspielte, verkörperte ich die Tatsache, dass meine Mutter den
Absprung von zu Hause endgültig geschafft hatte. Sie wollte mich um sich haben,
aber sie wollte auch mit mir wegfahren wie nach einem gewonnenen Wettkampf und
mich bei sich abstellen wie einen Pokal. Sie hupte zweimal, und wir fuhren davon.
Ich schaute nicht zurück.
Großvater hatte sich nicht mehr
blicken lassen. Er ahnte vielleicht, dass er in den
Ängsten meiner Mutter und
in unseren Träumen ohnehin aus- und eingehen konnte, als wären sie Häuser ohne
Türen und er ein
Wanderer
durch Wälder und Zeiten, für den es die Entfernung von Poppichl nach Salzburg
einfach nicht gab.
(Aus "Schlangenkind" von Peter Truschner. Roman. Zsolnay, 2001.)