Leseprobe:
Wahnsinn als Summe aller Erfahrungen.
Mit Sex
ist das ähnlich. Sex interessiert mich nur als Grenzerfahrung. Als Augenblick,
in dem Lebenstrieb und Todestrieb miteinander kämpfen. Leider werden das Vorher
und das Nachher mit der Zeit immer größer und störender. Und wo bitte steht geschrieben,
dass einer, der mich ficken darf, automatisch dazu berechtigt ist, mit mir vom
selben Teller zu essen und aus derselben Flasche zu trinken! Und wer hat beschlossen,
dass Sex und Schlafen in einem so engen Zusammenhang stehen sollen? Was hat das
eine mit dem anderen zu tun? Kuscheln! Gemütlich machen! Brötchen holen. Urlaubsplanung,
Weihnachten bei den Eltern, Wie war dein Tag, Schatz? Der ganze Pärchenspuk ...
Never
ever!
Ich merke sofort, welcher Mann für mich geeignet ist. Ich sehe es
in seinen Augen. Ich höre es an seiner Stimme. Wenn er keine Angst vor dem Tod
hat, dann hat er auch keine Angst vor der Leidenschaft.
Auch beim Tod gibt
es ein Vorher und ein Nachher. Zwei bezeichnende Bilder dafür haben sich für immer
in mein Gedächtnis eingegraben. Einmal die grausige Wiederherstellung einer Leiche
in der Pathologie. Nach der Autopsie zog der Sektionsmeister das hochgeraffte
Gesicht des Toten fast liebevoll über den skalpierten Schädel. Wie eine Mutter,
die die Bommelmütze ihres Sohnes zurechtrückt. Ich weiß kein besseres Bild für
die Sterblichkeit des Menschen. Ich weiß auch keine größere Kränkung, als tot und in
einer solchen Lage zu sein.
Zum anderen den Gesichtsausdruck
eines Testpiloten. Um diese Jungs auf Überschallflüge vorzubereiten, setzt man
sie in eine riesige Zentrifuge, die aussieht wie eins der Raketenkarussells, von
denen man immer kotzen muss. An einem langen Greifarm wird eine Kapsel immer schneller
im Kreis herumgeschleudert. In der Kapsel sitzt der Pilot. Vor ihm ist eine Kamera
eingebaut, die sein Gesicht während der extremen Beschleunigung beobachtet. In
dem Film sitzt also der Typ, ein Ami, und grinst noch kurz vorm Start aufsässig
in die Kamera. Eine Stimme draußen zählt runter und ruft schließlich: Hundred
per cent! Jetzt sieht man bildfüllend das runde Pilotengesicht. Noch ist er super
cool. Da, im Bruchteil einer Sekunde, entgleisen die Züge. Die Augen schließen
sich, die Lider flattern, die Mundwinkel werden von unsichtbaren Gewalten nach
unten gezerrt. Aus dem Smily wird eine Höllenfratze. Durch das gutmütige runde
Amigesicht grinst plötzlich
der Teufel selbst.
Schließlich fällt der Kopf zur Seite. Das Blut sackt raus. Das Gehirn wird in
einen Zustand versetzt, der dem des Sterbens sehr ähnlich ist. Es schüttet Drogen
aus, damit der Körper nicht leidet. Erwacht der Testpilot aus der daraus folgenden
kurzen Ohnmacht, dann beschreibt er, seinen Körper verlassen zu haben. Er bewegte sich auf einen langen dunklen Tunnel
zu, an dessen Ende ein helles Licht strahlte. Ähnliches erzählten Patienten, die
wiederbelebt werden mussten. Und Menschen, die Sex unter
Drogen hatten. Aus dem
Film habe ich zwei Dinge gelernt:
1. Ich fliege vorsichtshalber nie wieder
Concorde.
2. Ich will verdammt noch einmal den Tunnel sehen!
Aber genau
hier kommt wieder der Wahnsinn ins Spiel. Wer lässt sich nach Basic Instinct
schon noch gern ans Bett fesseln? Wer macht nach Im Reich der Sinne noch
ohne weiteres ein kleines Würgespiel mit? Wer hat noch Spaß am wilden Ritt, nachdem
er eine Dokumentation über Penisbruch gesehen hat? Wer lässt nach Nepper,
Schlepper, Bauernfänger überhaupt noch einen fremden Menschen in sein Haus?
Aus dem Roman "Ruf! Mich! An!" von Else Buschheuer. Diana, 2000.