Leseprobe aus "Ostseeatem"
aus der Geschichte "Meines Großvaters Schoß" von Alexander Peer, die von einem schweigsamen, durch den Krieg mutlos und verknöchert gewordenen Mann erzählt, der durch die Unbefangenheit des Enkels mit seinen Gefühlen in Kontakt kommt.


"Du bist ein ganz wichtiger Mensch", hat mein Großvater gesagt und meine Wange berührt oder wenn er dies nicht gesagt und getan hat, stelle ich mir vor, er hätte es; denn eigentlich hat er ja nie etwas gesagt. Ich stelle mir vor, dass ich ... ein kleiner Junge, in dessen Gesicht die Augen so groß sind, dass jeder weiß, hier ist einer dabei, die Welt zu entdecken ... dass also ich, der Entdecker, in den Wald laufe und anstelle von Tannenzapfen, Ästen oder Ahornblättern bringe ich ihm die Worte und halte sie ihm hin. Er hebt mich hoch, sagt "zeig’ mir, was du da in der Hand hältst" und ist - in dem Augenblick, wo ich meine Handflächen öffne - völlig verblüfft und erst recht sprachlos. Sprachlos sind wir immer dann, wenn wir etwas zu sagen hätten; mein Großvater hatte ja immer etwas zu sagen.

Der Wald ist feucht, der Wald ist dunkel, und im Wald da weine ich. Ich denke mir ein Schild, welches dies verkündet, aber nie vor dem Wald stehen wird. Dennoch gehen so viele in den Wald, um zu weinen, als wüssten sie von dem Schild, das ihnen den Weg zeigt. Manche kommen nicht wieder. Der Großvater weint nicht mehr, die Falten um seine Augen sind ausgetrocknet, früher mag da auch ein Rinnsal gewesen sein. Auf die Furchen lege ich die Worte, reibe die Falten ein, bis sie zu glänzen beginnen, "du bist ein ganz wichtiger Mensch", auf den Augenlidern taut es bereits. Der Großvater brummt, hüstelt und will mich schon absetzen, er verträgt das einfach nicht, diese Begegnung mit seinen Gefühlen. Er hat ja schon früh brav gelernt; "nimm’ die Dinge nicht so ernst, an alles gewöhnt man sich, man darf sich nicht unterkriegen lassen". Die eigenen Gefühle nur nicht so dicht aufkommen lassen. Ich sitze ganz nah bei ihm und er rutscht immer nervöser hin und her und hin und her."


Der Erzählband "Ostseeatem" beinhaltet zwölf Texte. Es finden sich in diesem Buch zwei Autoren, Alexander Peer und Erwin Uhrmann. Zu begründen ist dies damit, dass beide mehrere Reisen ins Baltikum unternommen haben. Während Alexander Peer vor allem Litauen besucht hat, ist Uhrmann mehrmals in Estland neugieriger Gast gewesen. In Lettland haben sich beide sozusagen getroffen. Ihre Texte ergeben ein stimmiges Ganzes.
Aber es wäre falsch das Buch als ein Buch über das Baltikum zu verstehen, zwar wird dieser Kulturraum literarisch durchdrungen, aber es ist vor allem die Atmosphäre, welche die Autoren zum Schreiben animiert hat. So selten nicht sind sehr persönliche Geschichten entstanden.
"Der Mythos vom geheimen Baltikum käme hier noch einmal intakt davon", schrieb ein Rezensent. Eine Kollegin empfahl Folgendes: "Um dieses Buch (...) zu lesen, braucht es Atemwölkchen vor dem Mund, blaue Fingerspitzen in der Nebelsuppe und stickig-heiße Gaststuben."
Die Themen reichen vom Krieg, über Liebe, Familiengeschichten bis zu den Wendejahren und der Gegenwart. Stilistisch avanciert treten diese Texte auf. Sie fordern Leserin und Leser, belohnen jedoch mit intellektuellen und emotionalen Impulsen.
Am besten ist es, das Buch für sich selbst sprechen zu lassen. Nachstehend finden Sie einen kurzen Textauszug aus der Geschichte "Meines Großvaters Schoß" von Alexander Peer, die von einem schweigsamen, durch den Krieg mutlos und verknöchert gewordenen Mann erzählt, der durch die Unbefangenheit des Enkels mit seinen Gefühlen in Kontakt kommt.
Mehr über die Arbeit von Alexander Peer erfahren Sie auf der Netzseite https://www.peerfact.at/.
Wieser Verlag, 2008. 208 Seiten.
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