Vorwort für die deutsche Ausgabe

Dieses Buch kam in Frankreich Anfang September 2002 heraus. Von der Kritik wurde es insgesamt positiv aufgenommen, offenbar konnte man die These, daß Amerika sich im Niedergang befindet, mit Gelassenheit in Betracht ziehen. Der Gang der Ereignisse seither hat die hier formulierten Interpretationen und Mutmaßungen weitestgehend bestätigt. Wir können sogar von einer Beschleunigung des Prozesses sprechen. Die Vereinigten Staaten, die noch bis in allerjüngste Zeit ein internationaler Ordnungsfaktor waren, erscheinen nun immer deutlicher als Unruhestifter.
Die amerikanische Wirtschaft gibt uns zunehmend Rätsel auf: Wir können nicht mehr genau sagen, welche Unternehmen tatsächlich real existieren. Wir verstehen vor allem nicht mehr, wie die US-Wirtschaft funktioniert, und wir wissen nicht, welche Wirkung es auf die verschiedenen Bereiche dieser Wirtschaft haben wird, wenn die Zinsen endgültig bis auf null gesenkt sein werden. Die Besorgnis der amerikanischen Politiker ist beinahe mit Händen zu greifen. Sie hat bereits zur Entlassung des amerikanischen Finanzministers O’Neill geführt. Tag für Tag verfolgt die Presse mit gespannter Aufmerksamkeit die Entwicklung des Dollarkurses.
Zum wirtschaftlichen Durcheinander kommt noch ein außenpolitisches und militärisches Chaos hinzu. Die Irakpolitik der Vereinigten Staaten zielt darauf ab, die Welt in den Krieg zu stürzen. Aber der hektische Aktionismus der amerikanischen Regierung, ihr Beharren darauf, unbedingt »Stärke« zu demonstrieren, verrät nur, wie unsicher Amerika in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller und strategischer Hinsicht ist. Denn die USA beherrschen längst nicht mehr die Welt, sie sind dabei, die Kontrolle zu verlieren. Noch vor einem möglichen Angriff auf den Irak könnte die Auflösung des amerikanischen Systems beginnen.
Für amerikanische Politiker und Journalisten war es bisher selbstverständlich, in Deutschland den ergebenen Verbündeten zu sehen. Nun widersetzt sich Deutschland dem Krieg, es hat gewissermaßen das Signal für den Aufbruch Europas in die strategische Autonomie gegeben. Dank der deutschen Haltung konnte Frankreich wirksam bei der UNO tätig werden und die amerikanischen Kriegspläne verzögern. Bei der Diskussion über die Resolution 1441 zur Rüstungskontrolle im Irak kam man der pragmatischen Realisierung eines am Schluß von »Weltmacht USA – Ein Nachruf« formulierten Vorschlages sehr nahe: Frankreich sollte seinen Sitz im Sicherheitsrat und sein Vetorecht mit Deutschland teilen. Denn ohne den deutschen Widerstand gegen einen Irakkrieg hätte Frankreich nichts bewirken können. Die beiden Partner Deutschland und Frankreich arbeiten wieder effektiv zusammen, und das beweist die globale Orientierung der Europäer. Berlin und Paris brauchen natürlich die stillschweigende Unterstützung der anderen Mitglieder der Europäischen Union. Es ist jedoch höchst beeindruckend, welches Maß an soft power – um die Formel von Nye aufzugreifen – Deutschland und Frankreich entfalten, wenn sie einig sind: in Europa und in der Welt.
Die amerikanischen Verantwortlichen in der Politik und in den Medien waren in diesem Fall ganz außerordentlich verblendet. Sie behaupteten, Deutschland sei isoliert, während doch gerade dieser Akt der Unabhängigkeit und das Bekenntnis zum Frieden die internationale Legitimität Deutschlands stärkten. Wohl zum ersten Mal betrachtete man in Paris die Fahne der Bundesrepublik mit uneingeschränktem Wohlwollen.
Die nächste Etappe bei der Auflösung des amerikanischen Systems wird eine explizite Annäherung zwischen Europa und Rußland sein in dem Bestreben, einen ausreichend soliden Gegenpol zu bilden und die Amerikaner aufzuhalten. Wenn der Krieg gegen den Irak kommt, muß dieser Schritt rasch erfolgen. Außerdem muß sich Ostasien von den Vereinigten Staaten emanzipieren, und dies gilt vor allem für Japan und Südkorea. Im Verhältnis zu Rußland wird einmal mehr, ich betone es, die Haltung Deutschlands ausschlaggebend sein, und zwar meines Erachtens aus offensichtlichen historischen und geographischen Gründen. Die Haltung Großbritanniens bleibt ungewiß. Tony Blair scheint gelähmt, weil ihm offenbar jede strategische Vision fehlt. Aber seine Politik der bedingungslosen Gefolgschaftstreue zur amerikanischen Regierung ist zerstörerisch für die internationale Bedeutung seines Landes, und wir dürfen nicht übersehen, daß auch die britische Öffentlichkeit in der Frage von Nutzen und Sinn eines Krieges gegen den Irak gespalten ist. Die gegenwärtige Situation hat uns zur Rolle des Vereinigten Königreichs zweierlei gelehrt: Zum einen kann Großbritannien nur wenig Einfluß auf den Kurs Europas nehmen, wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind. Umgekehrt hat auch Kontinentaleuropa wenig Möglichkeiten, auf das Vereinigte Königreich Einfluß zu nehmen. Aggressives Auftreten seitens der Europäer, das Ausüben von Druck auf die Briten, in einer bestimmten Weise gegenüber den Vereinigten Staaten aufzutreten, bewirken nur das Gegenteil und binden den Inselstaat enger an seinen transatlantischen Partner. Die Europäer sollten lieber abwarten, bis die Briten durch das Verhalten der Vereinigten Staaten ihrer Bündnistreue überdrüssig werden, zu zweifeln beginnen und sich auf ihre europäische Identität besinnen. Die Europhobie der amerikanischen Eliten wird auch Großbritannien nicht verschonen, zumal Großbritannien für die Vereinigten Staaten in gewisser Weise der eigene Ursprung ist, und folglich die Quintessenz Europas. Erst wenn Rußland, Japan, Deutschland – und warum nicht auch Großbritannien? – ihre außenpolitische Handlungsfreiheit wiedergewonnen haben, wird die Epoche des Kalten Krieges, der ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges war, endgültig überwunden sein. Das Zeitalter der Ideologien wird vorüber sein. Das Gleichgewicht der Mächte – Europa, Amerika, Rußland, Japan, China – wird die internationale Politik prägen. Keine einzelne Macht wird für sich in Anspruch nehmen können, sie allein verkörpere »das Gute« auf der Welt. Und der Frieden wird dann sicherer sein.

Dezember 2002, Emmanuel Todd



aus "Weltmacht USA. Ein Nachruf" von Emmanuel Todd
aus dem Französischen von Ursel Schäfer, Enrico Heinemann
Die USA stehen vor massiven Problemen. Die markigen Worte des Präsidenten um die Verbreitung der Demokratie und die Bekämpfung der »Achse des Bösen« täuschen nur noch Stärke vor. Die dramatische Wirklichkeit, so Emmanuel Todd: Die Welt braucht die frühere Supermacht längst nicht mehr in dem Maße, in dem Amerika heute von der restlichen Welt abhängig ist.
Die Zeit der imperialen Herrschaft Amerikas ist vorbei. Die Welt ist zu groß, zu vielgestaltig, zu dynamisch, sie nimmt die Vorherrschaft einer einzigen Macht nicht mehr hin. Und die USA haben nicht mehr das Ziel, die Demokratie zu verbreiten, obwohl Präsident George W. Bush nicht müde wird, ebendies zu behaupten. In Wirklichkeit geht es darum, die politische Kontrolle über die weltweiten Ressourcen zu sichern. Denn die USA sind mittlerweile vom »Rest der Welt« viel abhängiger als umgekehrt. Amerika versucht seinen Niedergang zu kaschieren durch einen theatralischen militärischen Aktionismus, der sich gegen relativ unbedeutende Staaten richtet. Der Kampf gegen den Terrorismus, gegen den Irak und die »Achse des Bösen« ist nur ein Vorwand. Die wichtigsten strategischen Akteure sind heute Europa und Russland, Japan und China. Amerika hat nicht mehr die Kraft, sie zu kontrollieren, und wird noch den letzten verbliebenen Teil seiner Weltherrschaft verlieren. In Zukunft wird Amerika eine Macht neben anderen sein.
Emmanuel Todd, geboren 1951, absolvierte das Institut d’Etudes Politiques de Paris und promovierte dann in Cambridge in Geschichte. Von 1977 bis 1984 war er Literaturkritiker für Le Monde, seitdem arbeitet er am Institut National d’Etudes Démographiques. Bereits 1976 sagte er in seinem Buch »La Chute Finale« den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus. Sein Buch »Weltmacht USA« wurde in Deutschland unmittelbar nach Erscheinen zum Bestseller. (Piper)
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