(...) Leary erörtert nicht nur den potentiellen Drogenkonsum Hesses, sondern thematisiert schon zu Anfang des Essays das Schreiben und die Weisheit, Symbole, Spiritualität, Lebensprozesse und Wirklichkeit. Über Hermann Hesse, "einer der großen Schriftsteller unserer Zeit" , wartet Leary mit detaillierten, biographischen Kenntnissen auf, so zum Beispiel, daß Hans C. Bodmer diesem ein Haus zur Verfügung gestellt habe. Für deutsche Verhältnisse erscheint dies für das Jahr 1963 als nichts besonderes, aber da erst in diesem Jahr ein Fachbuch über Hesse in den USA in englischer Sprache erschienen war, und bei nicht vorhandenen Deutschkenntnissen, erscheint Leary als Pionier auf dem Gebiet der Hesse-Forschung. Eine Kernthese des Essays betrifft die Spiritualität und Entwicklung Hesses. Leary schrieb:
Wenige Schriftsteller haben mit so leidenschaftsloser Klarheit und furchtloser Aufrichtigkeit den Weg der Seele durch die Stadien des Lebens aufgezeichnet. Peter Camenzind (1904), Siddhartha (1922), Steppenwolf (1927), Narziß und Goldmund (1930), Morgenlandfahrt (1932), Glasperlenspiel (1943) - verschiedene Versionen spiritueller Autobiographie, verschiedene Landkarten des Weges nach innen. Jeder neue Schritt revidiert das Bild aller vorangegangenen Schritte; jede Erfahrung erschließt neue Welten der Entdeckung in einem ständigen Bemühen, die Vision mitzuteilen.
Tatsächlich
bewegt sich Leary mit dem Essay, wenn auch am Rande, so doch relativ in einem
literaturwissenschaftlichen Rahmen. Seine Themen sind Psyche, Biographie, Spiritualität,
Entwicklung, Schreiben, sowie der Einfluß von Drogen.
Die Einschätzungen Ziolkowskis,
der Leary kritisiert, nähern sich teils Leary an, die Drogenthese ausgenommen.
Ziolkowski bezeichnete 1965 die äußere Form der Literatur Hesses als "Aufmachung",
während Leary 1963 schrieb: "Hesse ist ein Possenreißer. Wie die Natur im April
verkleidet er seinen Code mit üppigem Gepränge." Ziolkowski sieht durch die "Aufmachung"
den Zeitgenossen verdeckt, Leary sieht im "Code" die Weisheit Hesses verborgen.
Der "Code" Hesses erreiche in dem Roman Demian den Grad einer Vision, die
Leary, erfahren mit Drogen, als mögliche Drogenerfahrung erörtert, aber nicht
bestätigt: "Erreichte Hesse diesen visionären Zustand selbst? Durch Meditation?
Spontan? Benutzte H. H., der Dichter selbst, den chemischen Pfad der Erleuchtung?"
Die Antwort würde sich in "Der Steppenwolf" finden.
Dieses
Wechselspiel zwischen der Irrealität des Traumes oder der Vorstellung und der
Wirklichkeit, dem Leary einen möglichen Drogenkonsum Hesses zugrunde liegen sieht,
ist ein Erbe der Romantik. Als Beispiel läßt sich das "Märchen aus neuer Zeit",
Der Goldne Topf von E.T.A. Hoffmann, anführen, das anschaulich den
Wechsel
zwischen Wirklichkeit und Irrealität veranschaulicht, und daß der Text
ohne Einfluß von "Meskalin aus Peyotl" geschrieben wurde, ist wahrscheinlich.
Zwar kannte Hoffmann zahlreiche Ärzte (und Ärzte kennen Betäubungsmittel), doch
vermutlich genügten ihm große Mengen Alkohol, was letztlich auch zu seinem frühen
Tod geführt haben mag. Wie dem auch sei, das Wechselspiel zwischen Irrealität
und Realität, das Hesse durchführt, basiert weitgehend auf Erkenntnissen der Psychologie,
mit der sich Hesse ausgiebig beschäftigt hat, beziehungsweise diese sich mit ihm.
So gehörte er zu den ersten Großschriftsteller, die sich psychoanalytisch untersuchen
ließen.
Daß ein Drogenkonsum, der Hesses Perspektive änderte, tatsächlich stattfand,
kann Leary nicht beweisen. Im Steppenwolf erwähnt der Ich-Erzähler Haller
"ein besonders starkes Opiumpräparat, dessen Genuß ich mir nur selten gönnte"
, zudem wurde er nach dem Entschluß zum Selbstmord an seinem fünfzigsten Geburtstag
"zunehmend unbesorgter im Gebrauch von Opium und Wein" . Haller hat wenigen
Zeilen nach dieser Äußerung eine "Halluzination oder Vision an der Kirchenmauer"
. Vom Schwarzen Adler berichtet Haller: "[...] ich nahm und schnupfte. In der
Tat wurde ich in kurzem frischer und munterer, wahrscheinlich war etwas
Kokain
[sic!] in dem Pulver gewesen." Pablo, der Saxophonist, betätigt sich als Drogenhändler,
denn von Maria heißt es: "Zuweilen brauchte sie auch von seinen geheimen Mitteln,
auch mir verschafft sie je und je diese Genüsse." Und vor dem Eintritt ins Magische
Theater waren "ganz besondere Genüsse geplant." Diesen Zustand deutet Leary,
soweit es die Figur Haller und nicht die Person Hesse betrifft, als psychedelischen
Trip.
Am Ende seines Essays
betont Leary, daß zu Zeiten Hermann Hesses Drogenexperimente stattfanden, daß
es aber keinen Beweis gäbe, daß dieser davon gewußt habe. Doch berichtet Hesse
bereits im Jahr 1904 nicht nur vom "sorgenlösenden Zauber des
Bacchus"
(ein Euphemismus für Alkoholismus), sondern auch von der "süßen, schläfernden
Wollust des Haschischs". Insofern hat Hesse offensichtlich Kenntnis der Wirkung
von
Haschisch. Gerade die Drogenthematik war ein Stichwort, das den Hesse-Boom
in den USA beförderte.
Es ist eindeutig, daß es sich bei Harry Haller um einen Drogenkonsumenten handelt.
Der Grund für Hallers Wendung ist in einer Unzufriedenheit mit der Realität,
dem Versuch einer Veränderung der Perspektive zu sehen, denn, so Haller, "meine
Träume hatten recht gehabt, tausendmal recht, ebenso wie deine. Das Leben aber,
die Wirklichkeit, hatte unrecht."
Neurologisch betrachtet sind Träume Aktivitäten verschiedener Gehirnareale,
die nicht mehr, wie im Wachzustand, aufeinander abgestimmt sind. Deswegen erscheinen
Träume verzerrt. Der Traum ist ein individueller Prozeß, der im
Gehirn
abläuft, und ungehemmt Eindrücke und Verarbeitung zeigt.
Und dies wollte der Psychologe Leary experimentell ergründen, im Wachzustand.
Leary betont, die Verwendung von Drogen solle nicht dem Rausch dienen, sondern
der Erweiterung des Bewußtseins und damit den Zugriff auf andere Bewußtseinsebenen
ermöglichen. Daß dieser Drogengebrauch, dessen Anhänger er ist, nur unter wissenschaftlicher
Aufsicht geschehen dürfe, unterstreicht Leary und warnt deutlich vor den Gefahren
unkontrollierter Verwendung.
Neben der Biographie, und
Interpretationen, die sich am äußeren Rand der bürgerlichen Literaturwissenschaft
bewegen, erwähnt Leary die Kenntnis eines Briefes von Hesse. Darin verweist
er sehr geschickt auf dessen Äußerungen. Dieser habe sein Leben als Experiment
am Rande des Abgrunds betrachtet, sonst hätte er nichts zu schreiben gehabt,
und die Leser, so Leary, die das "psychische Kräftespiel" betrachten würden,
hätten die "zweite, höhere, zeitlose Welt" in Der Steppenwolf übersehen,
und daß der Roman "gewiß von Schmerz und Leiden erzählt, daß es aber die Geschichte
eines Gläubigen ist und nicht ein Buch der Verzweiflung" . Ansichten Hesses
beeinflußten Learys Gedankenwelt über Jahrzehnte hinweg. (...)
(aus "Hermann Hesse und die USA" von Marcus Meier)