Leseprobe:
(...)
Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie auf der Brücke war.
"Sie haben immer
nur ein paar Leuten auf einmal erlaubt, die Brücke zu betreten", berichtete sie
am nächsten Morgen im Southland Café. "Ich habe Ewigkeiten gebraucht, sie zu überqueren!"
Kurz
bevor sie sich dem Drehkreuz näherte, bevor sie zu dem Reporter und Kameramann
kam, kniff sie sich fest in beide Wangen, damit sie Farbe bekamen. Sie dachte
an ihren Modellehrgang und setzte ein breites Lächeln auf, bis ihr plötzlich der
Zahn einfiel, sie das Lächeln um die Hälfte verkleinerte und affektiert eine Hand
auf den Mund legte.
Sie tat völlig überrascht, als der Reporter von CBS Dallas
ihr ein Mikrophon hinhielt. Leise lächelnd legte sie die Hand wieder auf den Mund.
"Miss,
haben Sie den Fluss gesehen?" fragte der Reporter.
"Aber ja", erwiderte sie,
obwohl sie ihn nicht gesehen hatte. "Er ist auf allen Fernseh-Kanälen", fuhr sie
fort. "Einige Leute sagen, es ist ein Wunder. Sie wissen, dass das Wasser uns
Wunder bringt. Im mexikanischen Fernsehen habe ich sogar gehört, dass
der
Papst seine Spezial-Priester schickt, die solche Wunder überprüfen" - obwohl
sie auch keine Berichte im mexikanischen Fernsehen gesehen hatte.
Der Reporter
sagte: "Danke schön, Miss", und schob sie sozusagen weiter auf die Brücke, da
er jetzt mehr daran interessiert war, was eine alte Frau zu sagen hatte, die eine
mit Folie zugedeckte Schüssel trug.
Beim Betreten der Brücke fühlte Cindy sich
berühmt. Hubschrauber mit Kameras flogen über ihr, überall wimmelte es von Kameras
und Reportern, die Leute starrten sie an nach ihrem Gespräch mit dem Reporter,
zumindest bildete sie sich das ein, und all das führte dazu, dass sich ihre Augen
verschleierten.
Sie würde einen Plan aushecken, um "berühmt zu werden"!
Cindy
drehte sich um, obwohl sie die Brücke schon halb überquert hatte, und schrie zum
ersten Mal in ihrem Leben aus voller Kraft: "Wann werde ich im Fernsehen gesendet?"
Sie
fuchtelte heftig mit den Händen über ihrem Kopf und versuchte, die Aufmerksamkeit
des Reporters zu fesseln - das riesige, gähnende Loch in ihrem Mund hatte sie
in ihrer neuen Berühmtheit vollständig vergessen.
Sie wedelte weiter mit den
Händen und versuchte, die Aufmerksamkeit des Reporters auf sich zu lenken, bis
ein lautes Hupen sie fast so sehr erschreckte wie der Donner zuvor, und sie schrie
erneut auf, diesmal war es ein unechter kleiner Schrei. Sie nahm wieder Haltung
an, erinnerte sich an das Loch in ihrem Mund und legte erneut die Hand darauf,
ganz große Dame.
(...)
Einen
halben Straßenzug vor der Brücke stieg sie aus. Als sie vom Bus auf die Straße
trat, bekreuzigte sie sich, zupfte ihren Rock glatt, fingerte an ihrer etwas hervorstehenden
Haarnadel herum, straffte die Schultern und dachte noch einmal:
Hollywood,
pass auf, hier kommt Cindy!
Auf der Brücke hielt sie vom ersten Schritt an
Ausschau nach Reportern. Es waren so viele da, dass sie nicht wusste, welchen
sie wählen sollte, welcher der bekannteste war. Direkt vor ihr stand eine Frau
mit einer Kamera, die einen großen roten Aufkleber mit den Buchstaben CNN trug.
Eine junge, gutgekleidete americana stand vor der Kamerafrau und sprach
in das Mikrophon, sie war offensichtlich auf Sendung. Cindy musste schnell handeln.
Ohne lange zu überlegen, stolzierte sie auf die Frau zu, und als sie sie erreicht
hatte, fiel sie auf die Knie und schluchzte:
"Ein Wunder ist geschehen! Ein
Wunder! Schauen Sie! Schauen Sie!" schrie Cindy und deutete auf ihren neuen Zahn.
"Mein Zahn! Er ist nachgewachsen! Vor zwei Monaten ist er abgebrochen, und ich
war auf dem Weg zum Zahnarzt, und sehen Sie, sehen Sie nur, er ist nachgewachsen!
O mein Gott! O mein Gott! Ein Wunder ist geschehen! Ein kleiner Junge da drüben.
Wo ist er hin? Da drüben, o mein Gott, er ist weg! Er hat mir Flusswasser gegeben,
und während ich es getrunken habe, hatte ich das Gefühl, ohnmächtig zu werden,
und dann tat es sehr weh in meinem Mund, und dann - war der Zahn da! Herr Jesus,
ein Wunder!"
Die
Kamera lief. Cindys Tränen wurden rosa, als sie über ihre Wangen auf das heiße
Pflaster von Südtexas fielen.
Aus
"Der Duft der Maulbeeren" von Ito Romo. Europa Verlag, 2000.