Leseprobe:
...,
Anas Lächeln rankt sich ums Telefon ... Aus: António Lobo Antunes: "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht"
- Ich weiß nicht
im
Tonfall von jemandem, der einen fremden Schlaf schläft
-
Und das wo dein armer Vater in der Klinik liegt Ana Maria noch mehr Geflüster,
noch mehr Gekicher, noch mehr Träume, die nicht ihr gehörten, Maria Clara
ich
glaube, dass sie Maria Clara heißt, dass ich Maria Clara heiße, ich heiße Maria
Clara, so wie du Leopoldina heißt und in Alcoitão wohnst und hier bist
Maria
Clara steigt, nachdem sie aus der Klinik zurück ist, zum Dachboden hinauf, dreht
den Schlüssel zweimal im Schloss, nicht einmal, zweimal, als wenn jemand vor mir
Verzeihung
als
wenn jemand vor ihr
meine Mutter, die verwaiste Enkelin,
eines der Dienstmädchen Maria Clara sucht mich in den Truhen und in den Kisten,
nimmt Zeitungen auseinander, stolpert über das Foto im zerrissenen Portemonnaie,
entziffert mich auf der Ungenauigkeit der Zeit, auf der ein Fingerabdruck und
ein Tintenstrich, auf der ich ihrem Vater ähnlich sehe
auf
dem Leopoldina meinem Vater ähnlich sieht
und der Arzt
-
Ihre Tochter mein Freund begrüßen Sie denn Ihre Tochter nicht?
der
Mann mit der Zigarette ebenfalls auf dem abgewetzten kleinen Foto, jemand hat
das Fotopapier mit einer Klinge oder einem Messer zerschnitten, und wenn ich sage,
jemand hat es zerschnitten, dann denke ich dabei an den Lehrer oder an die Kranke
oder an Leopoldina oder an mich
ich habe das Fotopapier
mit einer Klinge oder einem Messer zerschnitten
jemand
hat das Fotopapier mit einer Klinge oder einem Messer zerschnitten und sie allein
zurückgelassen, an der geschwungenen Linie des Ohres hebt sich ein Ohrring ab,
der, den wir gesucht hatten
- Hast du dir mal überlegt
was passiert wenn ich ohne den Ohrring nach Hause komme?
unter
dem Kopfkissen, auf dem Fussboden, im Schuh, wenn wir nicht mit dem Ohrring herunterkommen,
wenn ich ihn nicht im Ohr habe, würde es Ana noch vor meiner Mutter bemerken,
und die Fragerei in Ecken und Winkeln
- Wer ist es
wer ist es sag mir seinen Namen Clarinha
ein merkwürdiger
Gesichtsausdruck, mich fragend umdrehen und meinen Vater auf der Türschwelle sehen,
Anas zehn Hände vor ihrem Mund, ich hätte sie am liebsten umgebracht, mein Vater,
der wieder ging, und das Arbeitszimmer, das sich schloss, zum dritten- oder viertenmal
der leichte Schlag auf den Türknauf, und er und ich auf Knien schütteln die Laken,
prüfen jeden einzelnen Knoten im Holz, jedes Lackblitzen, jede Ritze in den Dielen,
der Türknopf endgültig, autoritär
- Eine Minute
wie
soll ich mich so anziehen, die Haken in die Ösen kriegen, das Haar wellen, wo
doch die Bürste zittert, wenn mein Großvater das wüsste
-
Dein Ohrring Leopoldina?
wenn meine Mutter beim
Abendessen,
anfangs zerstreut und dann aufmerksam, mit riesigen Augenbrauen in den Quadraten
der Brille den Schellfisch vergisst
- Dein Ohrring
Maria Clara?
schreib mir nie wieder, hör damit auf,
wenn du von der Klinik zurückkommst, auf den Dachboden zu steigen, nur einmal
den Schlüssel umdrehen, und die Laube im Garten, die quadratischen Brillengläser,
dein Ohrring Maria Clara
- Dein Ohrring Maria Clara
der
Ohrring auf dem kleinen Foto im Portemonnaie trotz der Fingerabdrücke, der Tintenstriche,
der Ungenauigkeit der Jahre, einer dieser Silberkreise von einem fahrenden Goldschmied,
und der Schmetterling
auf der anderen Seite ist nicht aus Silber, aus Blech, macht mir Allergien und
tut mir auf der Haut weh, ein weiteres Paar aus Koralle in einer Streichholzschachtel
mit einem roten Schleifchen, auf der Klassenreise
nach
Marokko gekauft, Ana mit einer mitleidigen Grimasse, für die ich sie
hätte erwürgen können
- Du siehst wie ein Dienstmädchen
aus echt peinlich
auf dem kleinen Foto doch der kleine
Silberkreis, doch an meinem Ohr, die zehn Hände meiner Schwester, nunmehr nur
noch zwei, die Angestellte, die Adelaide ersetzt hatte, servierte weiter, der
Herr General und der Präsident Krüger debattierten, sich nicht um mich kümmernd,
über Mosambik, es kam mir so vor, als hielte mein Vater am Kopf des Tisches anstatt
des Bestecks einen Ballon oder ein Plastiksaxophon, so wie es mir auch vorkam,
als würde ihn eine Stehlampe mit einem Schirm aus Pergamentimitat schräg bescheinen,
als ich das Foto wieder wegsteckte, bewegte das Holzpferd seine schlecht angemalten
Züge vor und zurück, als säße jemand
wer?
auf
dem Holzsattel, das Erschaudern der Mähne, die schiefen Beine drohten zu zerbrechen,
die verwaiste Enkelin, dachte ich, mein Vater als Kind, dachte ich, oder eine
Laune der Gegenstände wie das Knacken der Möbel am Nachmittag, dennoch bewegte
sich das Holzpferd
auf dem Dachboden vor und zurück, als säße jemand
wer?
auf
dem Holzsattel, meine Mutter konnte es nicht sein, auch nicht meine Schwester,
auch nicht der Arzt, auch nicht die Krankenschwestern in der Klinik, irgend etwas,
das sich veränderte, ohne dass mich das Gleichgewicht des Hauses kümmerte, und
da, ein enges Zimmer, eine verchromte Sphinx,
der Waschtrog auf dem verglasten Balkon, und da ein Alter mit Kreideflecken am
Rockaufschlag, ein Alter und ein Mädchen in meinem Alter, in Maria Claras Alter,
mit gestopfter Bluse und zwei Silberohrringen, sechs Uhr in Alcoitão, die Turteltauben
flogen von den Kiefern auf, suchten einen Windhauch, der ihnen bis nach Sintra
half, und mein Vater bewegte sich auf dem Holzsattel vor und zurück, während wir
zur Decke schauten, ein leises Geräusch hörten, es konnten die Levkojen ein, es
konnten die Eschen sein, wir beschlossen
- Das sind
die Eschen
und
da es nun einmal die Eschen waren, vergaßen wir ihn.