Klaus Reichert: "Lesenlernen"
Über moderne Literatur und das Menschenrecht auf Poesie
Ein
Lese-Animateur
Wieder einmal ein Theoretiker, der uns seine Bibliophilie suggestiv,
relativ ausführlich und an konkreten Beispielen
erläutert (vgl. etwa auch Ulrich Greiner,
Leseverführer). In diesem Fall ist es mit Klaus Reichert ein
emeritierter Professor für Anglistik und Amerikanistik, der
uns seine Lieblingslektüren vorstellt. Allerdings sagt er dazu
so animierend wie abschreckend: "Die in diesem Buch zusammengetragenen
Vorträge und Aufsätze sind alle schwierigen Autoren
der Moderne gewidmet" (Vorbemerkung). Rückblickend urteilt
Reichert: "Jeder Autor war ein Abenteuer" (ebd.) - kein Wunder, wenn
man sich einlässt auf Leute wie Gertrude Stein, James Joyce,
Robert Creeley, Paul Celan, Wolfgang Hildesheimer oder
H.C.
Artmann. Es war die Idee des Verlegers Michael
Krüger, dass Reichert die "Geschichte meines Lesens" bis zu
seinem 25. Lebensjahr erzählen solle.
Dieses "Lesenlernen" im eigentlichen Sinn wird über 80 Seiten
vorgeführt: vom naiven Kennenlernen der Wörter
über die Entwicklung zur Leseratte und schließlich
zum Lesen als intellektueller Herausforderung. Reichert (Jg. 1938)
sagt, er habe als Kind die Welt aus Büchern kennengelernt -
wobei allerdings sein Lieblingsbuch "Grimms Märchen" waren.
Pauschal betrachtet ist Reicherts Lesekarriere relativ üblich
nach den bildungsbürgerlichen Kriterien: nach den
Märchen folgen Sagen, Abenteuergeschichten und
Jugendbücher - mit
Erich
Kästner und
Karl
May hält er sich allerdings nicht lange auf. Dass er
mit zwölf schon in den Klassikern zu blättern
beginnt, ist allerdings ungewöhnlich, auch dass er da vom
Vater schon in Piscator-Inszenierungen mitgenommen wird. Ab 14 liest er
die Lateiner und Griechen im Original - und er liest sich durch die
zeitgenössische Literatur. In den 50er Jahren widmet er sich
dem Hörspiel - und er organisiert mit Hilfe seines Vaters
Dichterlesungen mit damals wichtigen Autoren.
Durch Pound und
Benn erschließt sich ihm die moderne Lyrik.
Mit 19 hat er bereits persönliche Begegnungen mit Celan und
Grass,
während seines Studiums in England trifft er u.a. Erich Fried
und Elias
Canetti. Schließlich hört er in
Deutschland u.a. Vorlesungen bei Szondi und Adorno. Was für
eine beneidenswerte Entwicklungsstruktur dieses frühreifen
Lesegenies!
Im nach Seitenzahlen gemessenen Hauptteil des vorliegenden Buches
finden sich Aufsätze und Analysen zu speziellen Autorinnen und
Autoren aus den Jahren 1981 bis 2004. Diese Arbeiten des fertigen
Professors geben sorgfältige und geduldige Einblicke in
Arbeitsweisen, Werkpassagen und Persönlichkeit der behandelten
Schriftsteller - empfehlenswert als Einstieg oder Begleitung zur
Lektüre derselben! Man kann die Intensität dieser
Aufsätze hier nur konstatieren - jedes herausgegriffene
Partikel würde der Gesamtleistung nicht gerecht, da Reichert
mit vielen Details und Differenzierungen geradezu wuchert. Er tut dies
wohlgemerkt in einer Sprache, die inhaltlich niveauvoll, formal aber
für jeden halbwegs intelligenten Leser nachvollziehbar bleibt.
Dies Buch ist nicht nur für ein Publikum vom Fach gedacht -
Reichert hat eben durch geduldige Leseexerzitien von Kindheit an den
Blick für das Wesentliche und Nachvollziehbare entwickelt.
In seiner Interpretation zu Paul Celans Gedicht "Psalm" charakterisiert
Reichert quasi seine Vorgehensweise: "Wir haben versucht, es fragend zu
verstehen und die Fragen selbst immer wieder in Frage gestellt." Jawohl
- das ist redliche Wissenschaftlichkeit! Im dritten Teil liefert
Reichert eine Hommage an Szondi, dem er Entscheidendes zu verdanken
hatte - und einen kleinen Essay über "Das Menschenrecht auf
Poesie". Hier spricht er von der "Poesie als Lebensmittel ... als
Überlebensmittel, als einziger Möglichkeit der
Unterdrückten ... sich zu wehren, sich eine andere
Wirklichkeit zu erschaffen." Diese kompensatorische Eigenschaft der
Dichtung besagt auch, dass "die Grundkraft der Lyrik die Sehnsucht"
ist - in der Poesie erhält das Flüchtige, das zu
Erinnernde seine Würde. Reichert ist wirklich eine
Bereicherung: wenn es den Berufszweig Lese-Animateur gäbe - er
könnte ihn repräsentieren.
(KS; 08/2006)
Klaus
Reichert: "Lesenlernen. Über moderne Literatur und das
Menschenrecht auf Poesie"
Hanser, 2006. 298 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen