Michèle Lesbre: "Der Sekundenzeiger"


Ein wunderbarer Roman über die Suche einer Frau nach ihrer Identität und Bestimmung; ein feines Stück Literatur voller Zartheit und Gefühl

Anne ist eine Frau mittleren Alters und hat eine lange schwere Zeit hinter sich. Ihre Kindheit war nicht mit viel Liebe gesegnet, denn sie war Tochter von Eltern, die einander nie geliebt haben. Und wir wissen seit langem aus der Entwicklungspsychologie, welche verheerenden Folgen das für die seelische Entwicklung der aus solchen Paarbeziehungen hervorgekommenen Kinder haben kann. Bei Anne ist das der Fall. Ihren Vater, der allzu früh starb, hat sie als Kind auf eine bestimmte Art geliebt und sich von dieser Liebe etwas bewahrt. Äußeres Zeichen ihrer Beziehung zu ihrem Vater ist eine Armbanduhr, die er ihr kurz vor seinem Tod geschenkt hat. Der Sekundenzeiger der Uhr steht mittlerweile still, und für Anne gleicht dieser Stillstand einer Gnadenfrist, in der sie etwas zu finden hofft, das sie in der Herkunftsfamilie nicht bekam. Ihre Mutter hatte damals den Tod des verhassten Vaters regelrecht herbeigesehnt.
"Nach seinem Tod hatte meine Mutter mehrere Jahre der Euphorie durchlebt, so als habe ohne ihn endlich das wahre Leben für sie begonnen. Sie machte keinen Hehl daraus, und wenn ich gelegentlich auf die Vergangenheit anspielte, verschloss sie sich mir und gab vor sich nicht erinnern zu können."

Anne hat sich in einem kleinen Ort in der Nähe von Nantes in einer Pension eingemietet. Sie will dort ein Haus besichtigen, das zum Verkauf steht. Es ist schon das dreißigste, das sie sich anschaut, obwohl sie überhaupt keine finanziellen Mittel besitzt, an den Kauf eines Hauses auch nur zu denken. Dieses Haus, so hat sie beschlossen, wird das letzte sein, das sie sich anschaut, obwohl sie das, wonach sie die ganze Zeit unbewusst gesucht, noch nicht gefunden hat - wie auch?

In dieser Pension trifft sie einen netten Mann namens Pasquier, der ihr ein Buch leiht, in dem sie liest. Dabei erinnert sie sich ihrer Kindheit im Krieg und folgt dem Erzähler des Buches in die Vergangenheit:
"Angesichts der Verwirrung, die der Erzähler bei dem Versuch empfand, jene tragische Verkettung zu verstehen, die seine Nachbarn bis zum Drama der Konzentrationslager geführt hatte und für die er sich wegen seiner eigenen Feigheit offenbar mitverantwortlich fühlte, kehrte in mir die Erinnerung an eine nächtliche Szene im Keller unseres kleinen Wohnhauses zurück, die sich während eines Bombenangriffs zugetragen hatte."

Damals hatte sie im Luftschutzkeller einen deutschen Soldaten mit seiner französischen Geliebten und die Reaktion der Bürger auf diese Beziehung beobachtet. "Ich wusste, dass in diesen alten Erinnerungen etwas von dem steckte, wonach ich suchte, etwas, das ich mir bis dahin unmöglich hatte eingestehen können, das nun aber allmählich ans Licht drängte."

Sie stellt Zusammenhänge zwischen ihren Erinnerungen und den besichtigten Häusern her. Dort, in den zum Verkauf stehenden Häusern hatte sie nach einigen Malen jeweils einen Anlass gefunden, um dem Makler einige Stunden allein in dem jeweiligen Haus abzuringen, was ihr meistens gelang. In diesen Mußestunden in wildfremden, leerstehenden Häusern, hatte sie sich einer Selbsterkundung widmen können, zu der sie in der Psychiatrie, in der sie lange Zeit verbracht hat, nicht bereit war. Tief in ihrem Inneren spürt sie, dass die Besichtigung des letzten Hauses das Ende dieser Suche sein wird. Und tatsächlich verändert sich durch ihre Erinnerungen ihre innere Bearbeitung ihrer Lebensgeschichte, durch die sensible Freundschaft mit Pasquier verändert sich ihr Leben, und sie sieht ihren Vater ganz neu:
"Er war jung gestorben, ohne die Zeit gefunden zu haben, mit mir zu sprechen, ohne uns die Zeit gelassen zu haben, damit wir uns einander kennen lernten, uns miteinander anlegten. Das Leben sollte jedem soviel Zeit lassen, wie er brauchte, damit er zu dem werden konnte, der er wirklich war."
Anne lernt mit einer tiefen Weisheit aus dem Buch ihres Künstlerfreundes Pasquier zu leben:
"Die Wahrheit befindet sich weder hier noch dort, sondern an einem dritten, für unseren Geist unerreichbaren Ort. Man muss sich mit dem Zweifel begnügen, durch den alles vor uns Liegende in der Schwebe scheint."

(Winfried Stanzick; 12/2007)


Michèle Lesbre: "Der Sekundenzeiger"
(Originaltitel "La Petite Trotteuse")
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger.
edition manholt im dtv, 2007. 159 Seiten.
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Michèle Lesbre, Jahrgang 1947, war früher als Lehrerin und Direktorin an einer Grundschule tätig.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Purer Zufall"

Nina, heranwachsende Tochter einer attraktiven und lebensbejahenden Fabrikarbeiterin, erlebt an einem einzigen Wochenende in ihrem an sich tristen Heimatort im trostlosen Nordostfrankreich die Leichtigkeit einer unerwarteten Liebesziehung mit einem russischen Hotelgast. Zwei parallele Erzählperspektiven, die sich erst zum Schluss auf fast surreale Weise schneiden, sowie ausführliche Rückblenden zeigen das ganze Kaleidoskop eines Beziehungsgeflechts auf, das eine Kleinstadt an eine vom Konkurs bedrohte Textilfabrik bindet.
Beinahe neutral, aber ungeheuer intensiv, erzählt die Autorin von Leidenschaften im persönlichen und im Arbeitsmilieu, von den Turbulenzen im Leben von Ninas Mutter, von unausgesprochenen Sehnsüchten der begehrenswerten Nina, aber auch von den kleinen und später großen Dramen im Fabrikalltag. Sie lässt unaufgeregt teilhaben am Zusammenbruch von Lebensstrukturen - nicht zufällig werden Motive von Tschechow beschworen -, beschreibt überaus poetisch diese karge Gegend nicht weit vom Ärmelkanal.
Und dann wäre da noch der Mord an dem Fabrikbesitzer, oder war es gar keiner? Was treibt Nina dazu, immer tiefer in das Leben dieses Mannes einzudringen, dem man die Schuld am Untergang gibt? (dtv)
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