Giulio Leoni: "Dante und das Mosaik des Todes"


Ein Poet als egozentrischer Politiker und getäuschter Kommissar

Juni des Jahres 1300. In einer aufgelassenen Kirche vor den Stadtmauern von Florenz wird Meister Ambrogio am Fuße seines unvollendeten Werks, eines riesigen Mosaiks, tot aufgefunden. Sein Gesicht ist mit ungebranntem Kalk bedeckt. Der junge Dante Alighieri, seit wenigen Stunden einer von sechs gewählten Prioren der Stadt Florenz, wird gerufen, um den Fall aufzuklären und den Mörder zu finden.
Der Tatort, die Abtei San Giuda, soll auf Betreiben von Papst Bonifatius VIII. ein Studium, eine Universität, beherbergen. Bei genauerer Untersuchung entdeckt Dante, dass sich in den Katakomben unter der Kirche Bettler und Ausgestoßene versammeln, die an Hexenriten und satanischen Ritualen teilnehmen. Um das Umfeld des Ermordeten kennen zu lernen, sucht Dante Anschluss an eine ihm noch unbekannte Gesellschaft weiser Männer, den so genannten "Dritten Himmel", die die Gründung der Universität vorbereiten soll, sich jedoch offensichtlich mehr für eine geheimnisvolle orientalische Tänzerin in einer schmutzigen Spelunke interessieren als für die Wissenschaft. Dem grantigen, eingebildeten Dante sind alle Mitglieder dieser Gesellschaft verdächtig, bis plötzlich ein weiterer unter ihnen der nächste Tote ist. Ist das monumentale Mosaik der Schlüssel zur Aufklärung des Falls? Oder fielen die beiden Toten den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Guelfen und Ghibellinen zum Opfer? Obskure Spuren führen auch zum Templerorden und zu Kreuzfahrerkreisen. Schließlich muss Dante entdecken, wie sehr sich seine Heimatstadt Florenz und sein erdichtetes Inferno gleichen.

Leonis Stil ist sarkastisch und manchmal ein wenig respektlos. Mit Freude stellt er den Nationaldichter Italiens als ein allzu menschliches Wesen bloß, das brillant denkt, aber sehr launenhaft handelt. Seine Gesprächspartner kennen und schätzen ihn als großen Dichter, an dessen Liebesschicksal Anteil zu nehmen der Anstand gebietet. Viele kennen seine Verse auswendig - aber als Prior nehmen sie diesen Egozentriker nicht ernst. Auch seine Gesprächspartner sind häufig historische Figuren aus der Zeit der aufkommenden Renaissance, Astronomen und Dichter, Theologen und Architekten. Dante begegnet ihnen meist im gelehrsamen Gespräch. Viele Spuren verlaufen sich in der Wissenschaft, in weltdeutenden Dialogen. So manche Verschwörungstheorie des beginnenden Trecento und persönliche Feindseligkeiten zwischen den Gesprächspartnern verleiten den Leser zu vorschnellen, aber falschen Schlüssen.

Das Buch ist an Handlung arm, aber an Dialogen reich; ein Glossar der Übersetzerin am Ende des Buches versucht, die Leser in die Geisteswelt und Politik der Epoche Dante Alighieris einzuführen. Die Alchimie und ein mythischer, doch nach den Kreuzzügen entfremdeter Orient bilden eine Gegenwelt zur christlichen Ordnung, und die verborgene Welt, der Untergrund, bildet ein System, das sich in reicher Symbolik äußert, und die öffentliche Ordnung zu verschlingen droht.

Dante und das Mosaik des Todes ist ein spannendes und amüsantes Buch - wenn man bereit ist, dem Autor Giulio Leoni in die Gedankenwelt seiner Protagonisten zu folgen. Die Gespräche Dantes mit den anderen Gelehrten spiegeln die Gedankenwelt der Epoche gut, sind aber manchmal ein wenig zu konstruiert. Auch schaffte es der Autor nicht, die Figuren der meisten Gelehrten mit gleichem Geschick zu beleben und zu charakterisieren wie die Hauptperson Dante Alighieri.

Dass der Verlag Zsolnay im Werbetext auf dem Buchumschlag den unpassenden Gemeinplatz vom "Mittelalter, wo es am finstersten ist" bemühen muss, um auf einen historischen Roman zur Frührenaissance hinzuweisen, ist Quotenhascherei. Offensichtlich verkauft sich das dunkle Mittelalter als Schauplatz immer noch besser als andere Epochen. Doch dieses Buch braucht eigentlich kein historisierendes Umhängeschild, um zu gefallen; ein bisschen Interesse an Geschichte und vor allem Lust am Einfühlen in vergangene Zeiten sollten genügen.

(Wolfgang Moser; 10/2006)


Giulio Leoni: "Dante und das Mosaik des Todes"
Aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Zsolnay, 2006. 332 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Giulio Leoni wurde am 12. August 1951 in Rom geboren. Der Literaturwissenschaftler beschäftigt sich leidenschaftlich mit der Geschichte der Magie und der Illusionskunst und ist u.a. Mitglied der "American Society of Magicians" und des "Club Magico Italiano". 
Lien zu seiner Netzseite: https://www.giulioleoni.it/.

Leseprobe:

Prolog

Akko, im Morgengrauen des 28. Mai 1291

Ein Zischen durchschnitt die Luft, als hätten sämtliche Schlangen der Wüste den Kopf aus dem Sand erhoben. Auf dem höchsten Punkt seiner Bahn leuchtete das Geschoss im ersten Frühlicht regungslos am Himmel. Nach einer kleinen Ewigkeit setzte es seinen Weg fort und schlug krachend gegen den Wachtturm des Tores. Eine Wolke aus Steinsplittern und Ziegelbruchstücken wirbelte ringsumher auf, während das von dem Aufprall in seinen Grundfesten erschütterte Mauerwerk erbebte.

Die Außenkante des Turms, über eine Höhe von zwei Stockwerken zertrümmert, neigte sich langsam und sackte mitsamt den Dachbalken in sich zusammen. Für kurze Zeit übertönten die Angstschreie der Menschen, die in den gähnenden Abgrund unter ihren Füßen stürzten, das Getöse des Einsturzes, dann prallte der gesamte obere Teil des Bauwerks auf die Stadtmauer und schlug eine Bresche neben dem Tor. Eine riesige Staubwolke erhob sich und hüllte die Trümmer ein, während ein zweites Geschoss mit seinem teuflischen Zischen niederging und in der grauen Masse verschwand.

Diesmal wurde der Aufschlag des Felsbrockens nicht von einem Krachen begleitet, sondern lediglich von einem dumpfen Grollen aus dem Trümmerhaufen.

Auf der anderen Seite des Tors war in Sichtweite ein zweiter Beobachtungsposten ins Wanken geraten, als könnte auch er jeden Augenblick einstürzen.

"Sie haben wieder ihre Teufelsmaschine eingesetzt, Bruder", sagte einer der beiden Männer im Raum, rappelte sich mühsam vom Boden auf und eilte zu dem Loch in der Wand, um das Ausmaß der Katastrophe abzuschätzen. "Die Mauer wird nicht mehr lange halten."

Den zweiten Mann hatte die Erschütterung nicht niedergeworfen, weil er sich an den schweren Eichentisch geklammert hatte, an dem er gerade etwas schrieb. Mechanisch klopfte er die Kalkreste von seinen Kleidern, während sein Blick zu der Öffnung schweifte, die nun in der Wand klaffte. Doch er ließ sich nicht lange ablenken. Sogleich beugte er sich wieder über die vor ihm liegenden Schriftstücke. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, um die Müdigkeit nach einer schlaflosen Nacht zu vertreiben. Dann schrieb er ein paar Worte. Als er erneut aufsah, glomm ein Funken Verzweiflung in seinem Blick. "Der Bericht ist fertig. Doch er ist nutzlos, wenn er nicht in seine Hände gelangt", sagte er leise. "Wir sind verloren. Alles ist verloren."

"Nein!" rief sein Gefährte, der ihn an den Schultern packte und schüttelte. "Nein, noch ist nicht alles verloren!" Er hielt inne, als bereute er seine Geste. "Wir mögen verloren sein, doch eine Hoffnung gibt es noch", fuhr er ungestüm fort. "Unten im Hafen liegt ein Schiff. Wenn die Hospitaliter den Kai noch eine Stunde lang halten können, nur bis die Flut kommt ..."

"Unser Schicksal steht unter keinem günstigen Stern, Bruder. Doch vielleicht hast du recht, lass uns unser Glück noch einmal versuchen", antwortete der Mann am Tisch und wies auf eine mit Eisenbändern beschlagene Kiste, die offen auf dem Boden stand. Mit Hilfe seines Gefährten verstaute er sein Werk hastig darin und verschloss sie mit einem Lederriemen.

Auf dem Tisch lag ein in der Scheide steckendes langes Schwert mit einem Kreuz auf dem Griff. Er nahm es und wollte es sich umgürten. Doch dann besann er sich eines Besseren und wandte sich rasch zur Tür, gefolgt von dem anderen, der die Kiste fest unter dem Arm hielt.

Im Freien empfing sie wildes Kampfgetöse. Trommelwirbel begleiteten den Angriff der Sarazenen auf das letzte Bollwerk der Christen, die Festung von Akko. Auf einem schmalen, mit Zinnen versehenen Laufgang kamen sie ein kleines Stück voran. Vor ihren Augen luden die Angreifer in der sandigen Talsenke erneut die beiden gigantischen Katapulte. Dutzende von Männern, die von den Eunuchen aus der Leibgarde des Sultans bis aufs Blut gepeinigt wurden, versuchten, die turmhohen Geräte in eine neue Schussposition zu schieben.

Der ältere der beiden Männer blieb einen Moment stehen, um sich die Szene genau anzuschauen. "Sie wollen den Hafen treffen. Beeilen wir uns!"

Alles versank in einem Chaos aus Schreien, Befehlen und Flüchen. Kleine Gruppen von Bewaffneten liefen auf die Bresche zu, aus der ihnen Männer, Frauen und Kinder, gebeugt unter der Last von Bündeln und Hausrat, auf der Suche nach einer unmöglichen Rettung in Panik entgegenirrten.

Unterdessen hatten die beiden Männer die Erdaufschüttung am Festungsgraben hinter sich gelassen und waren in das Labyrinth von Gässchen eingetaucht, das das Zentrum der Wohnsiedlung durchschnitt. Eilig bahnten sie sich einen Weg durch die Menge zur Anlegestelle. Am Fuß des Abhangs erblickten sie den Binnenhafen, der von einer noch unversehrten Mauer geschützt war. Dort ankerte eine nach Steuerbord geneigte schwarze Galeere mit dem Kiel auf dem Trockenen, da noch Ebbe war. Auf dem eingeholten Segel am Baum war das Rot des Kreuzes zu erkennen. Achtern flatterte eine schwarze Fahne mit einem weißen Totenkopf. Auf den Decksplanken herrschte hektisches Treiben. Die gesamte Mannschaft stand in Waffen bereit, um mit Ruderschlägen zahllose Flüchtlinge abzuwehren, die verzweifelt versuchten, an Bord zu klettern.

Die beiden Männer sprangen in das flache Wasser und kämpften sich durch die Flüchtenden, wobei sie die Körper derer, die im Schlamm ausgerutscht waren, beiseite drückten und mit Füßen traten. Sie kamen nur mühsam voran, erreichten jedoch schließlich die Bordwand fast unter der Galionsfigur. Eine Lanzenspitze fuhr, von Drohrufen begleitet, gefährlich dicht an ihren Köpfen vorbei.

"Wir wollen nicht an Bord. Doch nehmt um Gottes willen das hier!" rief der ältere der beiden Männer, während der jüngere mit der Kraft der Verzweiflung die Kiste über seinen Kopf hob.

In einer Ecke des Deckaufbaus stand eine kleine Schar vornehm gekleideter Flüchtlinge, die wie betäubt auf die grauenvolle Szene starrten.

Bei dem Ruf fuhr einer von ihnen auf. Er löste sich von der Frau, die er in den Armen hielt, und trat an die Bordwand. Er beugte sich hinunter und nahm dem jungen Mann die Kiste aus den Händen. "Was soll ich damit tun?" fragte er.

"Zum Templerorden. Dort muss sie hin", antwortete der Mann und wies auf die Fahne am Heck.

"Was ist denn darin?" Offenbar wollte der Edelmann noch etwas hinzufügen, doch seine Stimme wurde von einem plötzlichen Knarren übertönt. Von der Flut angehoben, hatte sich der Rumpf der Galeere bewegt. Abermals in allen Fugen knirschend, setzte sie dann wieder auf dem Grund auf. Erneut erklang das Schlangenzischen, kurz darauf gefolgt vom Tosen einer gewaltigen Säule aus Wasser und Schlamm, nur wenige Armlängen von der Bordwand entfernt. Die durch den Aufprall ausgelöste Welle begrub Dutzende Flüchtlinge unter sich und hob den Schiffskiel wieder aus dem Schlamm.

Dem jungen Mann gelang es, nach Luft ringend, wieder aufzutauchen. Verzweifelt hielt er nach seinem Gefährten Ausschau, doch zwischen den strampelnden Leibern rings um ihn her war keine Spur mehr von ihm.

"Was ist darin?" rief der Mann auf der Galeere noch einmal. Die Seeleute um ihn her hatten begonnen, die Ruder ins tiefere Wasser zu tauchen und das Schiff auf das offene Meer zu lenken.

"Die Wahrheit", konnte der junge Mann gerade noch flüstern, bevor ein weiteres Zischen die Luft über seinem Kopf zerschnitt. (...)

zurück nach oben