Pavel Lembersky: "Fluss Nr. 7"

Kurzgeschichten über russisch-jüdische Einwanderer in Amerika

Eine Fülle skurriler Figuren finden sich bei Lembersky: auf gepackten Koffern sitzende Emigranten, "neu-russische" Geschäftsleute und bescheidene Intellektuelle, Gewinner und Verlierer der Geschichte - ihnen allen ist das Fremdsein selbstverständlich und das Selbstverständliche fremd geworden ...


"Die Gedanken kamen im Schlaf zu ihm, denn es gab sonst niemanden, zu dem sie kommen konnten. 
Endlich ertönte der Schuss. Colin hatte sich erschossen. Alle atmeten erleichtert auf. Die Party ging weiter. 
Der Schriftsteller Lew Nikolajewitsch Kafka war ein furchtbarer Idiot."
Diese Geschichte ("Verlorene Wette") beginnt etwas ungewöhnlich, obwohl ihr Ende recht mittelmäßig zu werden verspricht, ein alltägliches Ende wie es viele gibt... 
"Unser Freund S., der Mathematikprofessor, war ein furchtbar lustiger Kerl. Er hatte einen sehr abstrakten Humor und ein viriles Kinn." 
Was ist abstrakter Humor? Der Autor hiezu, immer noch ausgehend vom Mathematikprofessor S.: "Ich würde gern als Beispiel ein, zwei Witze von ihm anführen, aber ich habe sie leider gründlich vergessen - sie waren wirklich sehr abstrakt -..." An anderer Stelle deutet er einen solchen Witz immerhin an, und zwar im Zusammenhang mit einem Schlüsselbein- und Beinbruch: "Er (S.) machte zahlreiche und abstrakte Witze über dieses Thema, irgendwas von einem Hüftkosinus und den hinteren vier Ziffern, aber was genau, weiß ich nicht mehr."

Nun, das spielt keine sehr große Rolle, denn hier scheint KEIN gutes Beispiel für abstrakten Humor vorzuliegen, was wiederum keine sehr große Rolle zu spielen scheint, denn zum einen macht es keine Mühe, bessere zu finden, z. B. in der Tradition des jüdischen Witzes
a) Manöver in Israel. Auf einer Brücke steht ein Schild mit der Aufschrift: "Diese Brücke ist gesperrt". Der aufsichthabende General entdeckt eine Patrouille, die dennoch über die Brücke schreitet und will sie zur Rede stellen, bis er entdeckt, dass der Anführende ein Schild mit der Aufschrift trägt: "Wir schwimmen". 
b) Was ist das: Es hängt an der Wand, ist grün und pfeift?
Keine Ahnung!
Ein Hering!
Quatsch! Hängt doch nicht an der Wand!
Kannst ihn ja hinhängen!
Ist doch nicht grün. 
Kannst ihn ja anmalen!
Und pfeifen tut er doch nicht!
Nu, pfeift er halt nicht! 
Und zum zweiten ist Lemberskys Buch ohnehin voll davon. Der Autor hat einen sehr abstrakten Humor, kann gesagt werden. Soll geradezu vorrangig gesagt werden.

So konkret ist denn Lemberskys Aussage über den armen Lew Nikolajewitsch Kafka auch gar nicht, in erster Linie deshalb, weil es einen Schriftsteller dieses Namens gar nicht gibt, wie wir erfahren müssen. Und der formale Mangel in "Lakmus unterm Omnibus", nämlich das mittelmäßige Ende nach dem ungewöhnlichen Beginn, wird geradezu brillant saniert durch den genialen Einfall, dieses mittelmäßige Ende an den Beginn zu setzen, was den oben wiedergegebenen Satz, nebenbei bemerkt den eigentlichen Erzählbeginn (dies bringt übrigens, sofern man ihm selbstbezügliche Bedeutung zuerkennen will, zusätzliche verzwickte Konsequenzen mit sich!); in ganz hübsche logische Verwicklungen stürzt. Nur das mit Colins Selbstmord ist wirklich tragisch und überdies ganz konkret: Schließlich hat der Ich-Erzähler (also wahrscheinlich der Autor) mit dem soeben so unglücklich Verschiedenen eine Wette abgeschlossen, dass Letzterer sich NICHT erschießen werde! 10.000 Dollar muss er nun an Colins Schwester bezahlen! Einziger Hoffnungsschimmer: Sie weiß von der Wette nichts.

Dass die Gedanken gerade IHM einzig und allein aus dem Grund zukamen, weil es sonst niemanden mehr gab, zu dem sie kommen konnten, ist einerseits klar, denn ER (nicht der Autor, sondern der von ihm erfundene HELD seiner Geschichte) ist ja der einzige Überlebende nach einem Atomkrieg, andererseits auch wieder nicht, denn das Ganze war ja doch nur ein Traum des Helden, also hat der Atomkrieg gar nicht stattgefunden, also haben alle überlebt, also hätten die Gedanken nicht nur IHM, sondern JEDEM zufliegen können. 

Reichlich vertrackt, das Ganze also. Bleibt nur Gott zu danken, dass dieser in Odessa und Moskau herausgebildete abstrakte Humor den Autor auch in New York (was für ein schreckliches Nebeneinander der Namen! Welch unglückliche Biografie steckt hinter diesem tragischen Ortswechsel! Von dort, wo, wie es in der Erzählung "Besuch bei einem alten Freund" heißt, die Erziehung verbat, an Ihn [Blick zur Deckenlampe] zu glauben, was auch nicht gerade fein ist, ins Zentrum der aus Barbarei ohne Umweg über Kultur entwickelten Dekadenz, wie Clemenceau ausnahmsweise mit Recht sagte - ist Schlimmeres vorstellbar?) - auch in New York sagte ich, und ich erspare mir zusätzliche Attribute zu dieser Stätte des Grauens, denn diese tun hier nichts zur Sache, um diese handelt es sich hier überhaupt nicht - obwohl es bemerkenswert erscheint, wie wenig dieser tragische Abstieg in die Unkultur von betroffenen Autoren thematisiert wurde und auch wird (bei Lembersky immerhin in Ansätzen, z. B. in "Samusis Tod") - also noch einmal: Gott zu danken bleibt, dass dieser Humor den Autor AUCH IN NEW YORK nicht verlassen hat.

Pavel Lembersky wurde 1956 in Odessa geboren und wanderte mit 21 Jahren in die USA aus. Er studierte Kunst an der New York School of Visual Arts, vergleichende Literaturwissenschaft in Berkeley und Film und Filmtheorie in San Francisco. Heute lebt Lembersky in New York; er schreibt Geschichten und Drehbücher, arbeitet an Filmprojekten und als Radiomoderator, betreut Ausstellungen und tritt als Stand-up Comedian auf.

(Franz Lechner; 10/2003)


Pavel Lembersky: "Fluss Nr. 7"
(Originaltitel "Reka No. 7")
Aus dem Russischen übersetzt von Olga Radetzkaja.
Frankfurter Verlagsanstalt, 2003. 207 Seiten.

ISBN 3-627-00106-0.
ca. EUR 19,80.
Buch bestellen