Julian Lees: "So fern wie der Himmel"
Eine
tragische Odyssee vom Ural über die Mandschurei nach Schanghai
Klara, ein kleines Dorf im Ural 1918:
Der schreckliche Krieg ist aus,
doch die Menschen kommen nicht zur Ruhe. Die Bolschewiken und ihre
Handlanger suchen nach Regimegegnern, enteignen und töten sie.
Zur potenziellen Beute gehört auch Wassya Trofimow, ein Kosak,
der vor einiger Zeit aus dem Krieg zu seiner kleinen Familie
zurückgekehrt ist. Rushtu, ein missgünstiger Vetter,
verrät ihn. Überstürzt muss die Familie
aufbrechen. Weit ist es im eisigen Winter bis zur Bahn, und Essen ist
rar. Noch schlimmer entwickelt sich die Situation im Zug Richtung
Osten. Die Menschen erkranken und sterben reihenweise, auch der Sohn
der Trofimows.
Die Familie kommt nicht wie vorgesehen in Wladiwostok an, sondern es
verschlägt sie ins mandschurische Harbin. Anfangs sind die
Trofimows kurz vor dem Verhungern, aber es gelingt ihnen, eine
bescheidene Existenz aufzubauen; die kleine Agrapina und ihre Schwester
können sogar zur Schule gehen.
Parallel dazu entwickelt sich die Geschichte von George Talbot, einem
Unternehmersohn aus einer englisch-chinesischen Mischlingsfamilie in
Schanghai. Unterdrückt von einem strengen Vater, der die
Diskriminierung durch "reinrassige" Mitbürger durch
verstärkten Ehrgeiz wettzumachen versucht, erfährt
George eine harte Lebensschule. Erst als sein Vater stirbt und er
selbst zwangsläufig die Firma übernimmt, kann er mehr
oder weniger seinen eigenen Weg gehen und einige seiner Ideale
verwirklichen.
Mittlerweile ist Rushtu ebenfalls nach Harbin geflohen. Es kommt zu
lebensgefährlichen Begegnungen zwischen dem
hasserfüllten Rushtu, Wassya Trofimow und Agrapina. Da auch
die gesamte Lage zunehmend bedrohlich wirkt - die
Japaner machen
Anstalten, die Mandschurei zu besetzen - gibt die Familie noch einmal
alles auf und fängt im chaotischen,
krisengeschüttelten Schanghai von vorne an.
Als Agrapina dort George kennen lernt, scheint es, als hätten
sie einander gesucht und gefunden. Ihre so unterschiedliche Herkunft
stört sie nicht. Schließlich sind sie beide
Geächtete: George als "eurasischer" Mischling, Agrapina als
Russin und somit Angehörige eines in Schanghai zutiefst
verachteten Volkes.
Doch aus beiden Familien erwachsen ihnen Widerstände, und
beide werden von privaten wie auch politischen Verwicklungen
heimgesucht und geraten in Lebensgefahr.
Julian Lees, Agrapinas Enkel, hat seinen Erstlingsroman auf der
Grundlage der Erzählungen seiner Großeltern
aufgebaut. So unglaublich die Geschichte erscheint, so realistisch,
spannend, tragisch und bilderreich weiß er sie darzustellen;
dem Leser erscheinen die Orte und Menschen plastisch vor Augen. Dabei
setzt der Autor eine angenehm schlichte Sprache ein. Lees entwirft
voller Lebendigkeit und Einfühlungsvermögen Agrapinas
unbeschwerte frühe Kindheit im Dorf und deren Ende, als Rushtu
auftaucht und die Familie terrorisiert, die Rückkehr des den
Kindern nach Jahren in der Armee fremd gewordenen, traumatisierten
Vaters, die dramatische Flucht. Ebenso behutsam schildert er Georges im
Vergleich dazu eher ereignisarme Kindheit, die aber mit Seelenqual
durch den scheinbar lieblosen, patriarchalischen Vater intensiv benetzt
ist.
Die Spannung wächst ins Unerträgliche, als die
äußeren Umstände Agrapinas und Georges
zunächst unabdingbar erscheinendes Glück zu
zerstören drohen. Und dennoch ergeben sich immer wieder
urkomische, humorvoll erzählte Szenen, sodass der Leser
hellauf lachen muss.
Das Buch ist sehr ansprechend gestaltet, vor allem fällt der
wunderschöne Einband auf.
Da das Ende offen bleibt, darf man sich mit Sicherheit auf eine
Fortsetzung freuen.
(Regina Károlyi; 09/2006)
Julian
Lees: "So fern wie der Himmel"
(Originaltitel "A Winter Beauty")
Aus dem Englischen von Gloria Ernst.
Blanvalet, 2006. 448 Seiten.
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Julian Lees wurde 1967 in Hongkong geboren. Schulzeit und Studium absolvierte er in England. Als Kind verbrachte er viel Zeit bei seinen Großeltern George und Agrapina Talbot, die ihm zahllose Geschichten über ihr Leben in Shanghai erzählten, das sie 1949 verlassen mussten. Ein Brief seiner Großtante Galia aus Russland war schließlich der Impuls, immer tiefer in die Geschichte seiner Familie einzutauchen. Julian Lees gab seinen Beruf als Aktienhändler auf und arbeitet seither als Autor. Er lebt in Hongkong.