John Le Carré: "Schatten von gestern"
Der Nachrichtenoffizier George Smiley wurde soeben von seiner Frau verlassen und ist froh, sich mit einem neuen, angeblich leichten Routinefall in die Arbeit stürzen zu können: Ein Beamter des Außenministeriums, der des Verrats verdächtigt worden war, hat Selbstmord begangen. Doch ist Sam Fennan wirklich freiwillig aus dem Leben geschieden? Obwohl der Abschiedsbrief eindeutig klingt, hat George Smiley seine Zweifel ...
Das Erstlingswerk aus dem Jahr
1961
Dies ist der erste, sehr kurze Roman von John Le Carré, den er
noch schrieb, während er für den MI5 arbeitete. Wenn sich John Le Carré zu
seiner Arbeit beim Geheimdienst und zu den Menschen, mit denen er dort zu tun
hatte, äußert, gewinnt man den Eindruck, dass es sich ähnlich wie im Bereich der
Archäologie zunächst um enthusiastische, meist adlige Amateure gehandelt zu
haben scheint und erst im Laufe der Kalten Krieges eine Professionalisierung des
Berufs "Geheimagent" eingetreten ist.
Kurz nachdem seine Frau ihn wegen
eines Latino-Rennfahrers verlassen hat, ist George Smiley ziemlich frustriert,
auch weil man ihm auf Grund seines Alters keine Auslandseinsätze mehr zutraut.
Er würde so gerne wieder
nach Deutschland zurückkehren, wo es mehr Aufregung und
endlich auch keine Nazis mehr gibt. So ist Smiley einigermaßen zufrieden, dass
er zumindest für Überprüfung und Verhör von Samuel Fennan, dem Ehemann einer
deutschstämmigen Jüdin, eingeteilt wird und ihn vom Kommunismusverdacht
reinwaschen kann.
Umso erstaunter ist Smiley, als er am nächsten Tag
hört, dass Fennan, verzweifelt über den Ausgang des Interviews, Selbstmord
begangen hat, was gar nicht zur Atmosphäre des Gesprächs passen will. Von seinem
Vorgesetzten Marston bedrängt, macht sich Smiley an die weiteren Ermittlungen
und stößt dabei auf verschiedene Ungereimtheiten - nicht zuletzt, als er
versehentlich einen Weckruf für Fennan annimmt, den dieser noch am Abend vor
seinem Ableben bestellt hatte.
Im Rahmen seiner Ermittlungen kommt Smiley
zunächst den Mitarbeitern des Außenministeriums, wo Fennan angestellt war, zu
nahe und dann auch seinem eigenen Vorgesetzten, was ihn schließlich dazu
veranlasst, die Kündigung einzureichen. Doch damit beginnen seine
Schwierigkeiten erst richtig und es zeigt sich, dass diese sehr konkrete Bezüge
zu Smileys eigener Agententätigkeit im Deutschland des frühen Nazi-Regimes
aufweisen.
In John Le Carrés Erstlingswerk werden neben George Smiley
auch andere wichtige Figuren aus seiner Romanwelt vorgestellt - wie zum Beispiel
der ehemalige Polizist Mendel. Außerdem werden in "Schatten von gestern" bereits
einige der Motive thematisiert, die auch Le Carrés späteres Werk durchziehen:
Probleme mit politisierenden Verantwortlichen in leitenden Positionen, Smileys
Ehefrau, das Amateurhafte des britischen modernen Geheimdiensts in seiner
Anfangszeit nach dem 2. Weltkrieg und die fehlende Zusammenarbeit der Dienste
untereinander - auch zwischen eigentlich verbündeten Ländern.
Die Sprache Le
Carrés ist in den Romanen um Smiley immer sehr trocken, und das Bürokratische
der Geheimdienstarbeit wird dabei nur allzu deutlich.
Überdies lässt der
Romanerstling eben jenen Humor vermissen, der spätere Werke wie "Der Schneider
von Panama", "Der Nachtmanager" und auch "Absolute
Freunde" durchzieht. Hierin zeigt sich eine merkliche Entwicklung, wobei
aber gerade "Schatten von gestern" und "Absolute Freunde" die emotionale und
professionelle Entwicklung des Autors und eventuell auch der Geheimdienstarbeit
beschreiben, so dass diese beiden Romane meines Erachtens auf jeden Fall
zusammen zu rezipieren sind, wenn man Le Carrés Gesamtwerk beurteilen
möchte.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 10/2004)
John Le Carré: "Schatten von
gestern"
(Originaltitel "Call for the Dead")
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