Christiane Nüsslein-Volhard: "Das Werden des Lebens"
Wie Gene die Entwicklung steuern
Das
vielleicht spannendste Rätsel der Welt und seine
molekularbiologische Lösung
Wahrscheinlich gibt es niemanden, der sich beim Ansehen von
Ultraschallaufnahmen eines menschlichen Fötus oder auch beim
Beobachten der Entwicklung von Fröschen aus den gallertartigen
Eiern des Laichs über Kaulquappen nie gefragt hat, wie die
Entstehung und Differenzierung von Leben eigentlich funktioniert. Da
die molekularen Grundlagen jedoch auf den ersten Blick allzu komplex
anmuten, befassen sich Laien selten ausgiebig mit diesem Thema.
Christiane Nüsslein-Volhard, Trägerin des
Nobelpreises für Medizin und Direktorin des
Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie in
Tübingen, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Entstehung von
Lebewesen allgemeinverständlich zu erklären.
Herausgekommen ist ein Taschenbuch von nicht einmal 200 Textseiten, in
dem alle wesentlichen Fakten dieses Bereichs enthalten sind.
Zunächst erläutert die Autorin kurz die Historie der
Aufklärung der Mechanismen von Abstammung und
Vererbung, die
ein neues Zeitalter der Biologie einläutete.
Anschließend beginnt der Einstieg in die Welt der Zytologie
und Genetik: Was sind Zellen, was Chromosomen, was Gene, und woraus
bestehen sie? Wie funktionieren die unterschiedlichen Zellteilungen
(jene der Körperzellen, die einfach eine Kopie der
ursprünglichen Zelle herstellen, und jene, die Keimzellen
schaffen, die am Ende nur einen einfachen/haploiden Chromosomensatz
aufweisen statt des doppelten/diploiden der "normalen" Zellen)?
Im dritten Abschnitt geht es um die Natur und Funktion der Gene und der
von ihnen codierten Proteine sowie die Proteinsynthese in der Zelle.
Die nächsten Kapitel befassen sich mit den genetischen und
biochemischen Grundlagen der Entwicklung von der Ei- und
Spermienentwicklung bis zum fertigen Organismus, vor allem anhand jener
der Fruchtfliege Drosophila, die relativ einfach und gut erforscht ist
und deshalb auch von Laien praktisch im Detail nachvollzogen werden
kann. Aber auch die Wirbeltiere werden in späteren Abschnitten
einbezogen. Dank der Ausführungen über Drosophila ist
für den Leser die wesentlich kompliziertere Entwicklung von
Fischen, Fröschen, Vögeln und Säugetieren
gut nachvollziehbar, einschließlich jener des Menschen.
Diesbezüglich werden auch Erbkrankheiten und genetische
Dispositionen sowie Krebs auslösende Gene betrachtet.
Um die Entwicklung aus einem größeren Blickwinkel
geht es schließlich im vorletzten Kapitel, nämlich
um die Änderungen der Baupläne und Genome im Zuge der
Evolution, wobei es den Laien verblüffen mag, dass viele
unserer Gene entwicklungsgeschichtlich uralt sind und wir rund die
Hälfte unserer Gene mit den Hefen teilen, auch wenn sich die
Funktionen dieser Gene zum Teil verändert haben.
Die Evolution des Menschen wird in diesem Rahmen ausführlich
behandelt.
Zum Abschluss erläutert die Autorin den
naturwissenschaftlichen Hintergrund aktueller, vielfach umstrittener
und in den Medien oft trotz fehlender Sachkenntnis der Urheber
ausgeschlachteter Themen und Ängste, zum Beispiel das Klonen,
die künstliche Befruchtung, die
Präimplantationsdiagnostik, Gentherapie und den Umgang mit
embryonalen Stammzellen.
Im Anhang befinden sich eine Zeittafel mit den Eckdaten wichtiger
Entdeckungen und Theorien, ein angesichts der Informationsdichte von
mir als sehr hilfreich empfundenes Glossar und ein
ausführliches Register.
Das Buch fällt zwar unter die Kategorie
"Populärwissenschaftlich", der Schwerpunkt liegt aber eher auf
der wissenschaftlichen Seite. Das heißt, es ist
grundsätzlich auch für Menschen ohne
gründliche biologische Vorkenntnisse durchwegs
verständlich, aber diese müssen ein gewisses
Maß an Selbstdisziplin und aufrichtiges Interesse mitbringen,
weil der Leser wirklich gefordert wird, selbst wenn er in der Schule im
Biologieunterricht aufgepasst hat: Man liest dieses Buch nicht "mal
eben". Wer jedoch bereit ist, Zeit und Aufmerksamkeit in das Buch zu
investieren, wird reich belohnt, denn die Autorin versteht es, trotz
des tiefen Eindringens in die hochkomplizierten Vorgänge auf
Zell- und molekularer Ebene beim Werden des Lebens immer eine
nachvollziehbare Darstellung zu wahren. Und so erschließt
sich dem eher unbedarften Leser eine erstaunliche Welt mit einer ganz
eigenen Logik, mit durch Mutation und
Evolution hervorgebrachten
Mechanismen, die man nur als faszinierend und genial "erdacht"
bezeichnen kann, selbst wenn man die Existenz eines
Schöpfergeistes verneint.
Sehr interessant ist auch das letzte Kapitel, weil es aufzeigt, wie
widersprüchlich unsere Gesetzgebung ist, die teilweise auf
wissenschaftlich nicht haltbaren Behauptungen, der Angst vor selbst
längerfristig nicht realisierbaren Verfahren (die einerseits
ethisch bedenklich sind, andererseits, wären sie "machbar",
jedoch viel Leid lindern oder gar ausmerzen könnten) und dem
Versuch beruhen, einen Kompromiss zwischen unvereinbaren Positionen zu
finden.
Der Aufbau des Buchs vom Einfachen hin zum Komplexen
unterstützt das Verständnis natürlich.
Ebenso bedeutsam wie der Text sind die zahlreichen, auf das Wesentliche
reduzierten und immer ausführlich erklärten Skizzen,
denn oft erschließt sich ein Zusammenhang oder Ablauf am
besten durch die Ansicht.
Ab und zu kommt es innerhalb unterschiedlicher Themenstellungen zu
inhaltlichen Wiederholungen, doch den weniger fachkundigen Leser wird
das eher freuen als stören. Langweilig wird dieses Buch nicht
- wie gesagt, sofern man sich wirklich gründlich informieren
und das Rätsel Leben möglichst genau verstehen
möchte.
Ein großartiges, äußerst empfehlenswertes
Buch! Und am Schluss, nachdem das besagte Rätsel des Lebens
zufriedenstellend gelöst wurde, bleibt ein weiteres: Wie kann
man eigentlich so viel hervorragend vermittelte Information auf so
wenigen kleinen Seiten unterbringen?
(Regina Károlyi; 07/2006)
Christiane
Nüsslein-Volhard: "Das Werden des Lebens"
dtv, 2006. 208 Seiten.
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