Tanja Langer: "Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte"
Es ist selten, dass man von
Schriftstellern heute etwas über den persönlichen Hintergrund ihres Schreibens
erfährt, das, was sie bewegt und antreibt. Weil Tanja Langer in ihrem neuen
Roman auf eine mir so selten begegnete, erfrischende, wohltuende und
mutmachende, dabei völlig ideologiefreie Weise vom Leben erzählt, nicht von
einem abstrakten Kunstleben, sondern von einem ganz realen Familienleben, weil
sie erzählt von Menschen auf der Suche, weil es einfach ein wunderbares Buch
einer bemerkenswerten Autorin ist, soll eine längere Stellungnahme Tanja Langers
zu Beginn einer Veranstaltung in Auszügen eingangs dieser Rezension zitiert
werden. Diese zeigt den Hintergrund ihres Schreibens in einer Weise auf, wie ich
sie von einem anderen Autor so noch nicht gelesen habe.
"Jeder macht sich
Bilder, doch in besonders hohem Maße scheinen Künstler, Schriftsteller und
Wissenschaftler damit befasst zu sein. Vielleicht haben sie ein besonderes
Repräsentations-Bedürfnis-Gen. Früher hieß das auch Talent. In jedem Fall steht
zu vermuten, dass sie nie so recht zufrieden sein können mit dieser Welt und
also mit den Bildern, die sie von dieser Welt vorfinden, mit dem Bild, das sie
von sich haben und das andere oft genug nicht mit ihnen teilen. Kunst (ob
Sprache, bildende Kunst oder Musik) stellt vielleicht am radikalsten die Fragen
des Sich-selbst-Vergewisserns in einer Gesellschaft: Wer bin ich und was mache
ich hier (...)
In unserer Gesellschaft wird der Wert eines Menschen nach
seinem Einkommen bemessen. Kinder fallen da aus dem Schema. Kinder werden
wegorganisiert oder sich selbst überlassen, auch die einem falschen Verständnis
von Zuwendung folgende Überbehütung ist nur die Kehrseite dieser
Wohlstandsverwahrlosung. In arbeitslosen Familien greift die Desorientierung der
Eltern, ihr Gefühl, wertlose Mitglieder der Gesellschaft zu sein, über auf eine
Jugend, die keine Perspektiven sieht und nicht selten radikalen Randgruppen
zuströmt. Das ist die Armutsverwahrlosung. Mütter in allen Schichten und
Milieus, die sich nach wie vor überwiegend um die Erziehung von Kindern kümmern,
fühlen sich häufig isoliert und missachtet. Dies äußert sich nicht nur darin,
dass Nachbarschaftshilfe selten ist, sondern vor allem auch in der
Repräsentation ihrer Belange in den Medien. Das Bild der Welt, in der wir leben,
wird von hektisch eingespannten, zumeist kinderfernen Männern und manchmal
Frauen geprägt. Kitsch auf der einen, Häme und Zynismus auf der anderen Seite
sind, so scheint es, leichter zu bewerkstelligen, als Mitgefühl und Verständnis.
Eltern,
Erzieher und Lehrer sollen wettmachen, was in ihrem eigenen Leben und in
unserer Gesellschaft auf der Strecke bleibt.
Erst die Ereignisse von Erfurt
haben den Weg geöffnet, auf breiter Ebene Fragen nach der geistig-seelischen
Verarmung unserer Gesellschaft zu artikulieren, Fragen, die die jüngere
zeitgenössische Literatur längst auf das Trapez gebracht hat, nicht zuletzt weil
sie seit jeher Themen der Literatur waren.
Schriftsteller galten einst als
Speicher von Wissen, als Erkenntnis Suchende, als diejenigen, deren Werke später
zum Inhalt von Bildung gemacht wurden. Sie gingen stärker als andere dem
Bedürfnis des Menschen nach, sich über sich selbst zu vergewissern. Das, was
Schriftstellerinnen und Schriftsteller heute noch ausmacht, ist die Fähigkeit,
höchst individuelle Erfahrungen zu artikulieren. Ein reales Individuum, nicht
der funktionierende Mensch, steht hinter jedem literarischem Werk. Das war und
ist gut so, bilden sich in der Auseinandersetzung mit ihnen doch auch Widerlager
gegen die eigene Zeit. Doch auch AutorInnen werden heute leicht zu Waren
gemacht, nicht selten entsteht der Eindruck, es werde von ihnen eine
Dienstleistung erwartet, etwas, das in den vermeintlichen mainstream
passt, damit es sich gut verkaufe. Dazu gehört ein merkwürdig dummes Bild des
Lesers, der Leserin, das in keiner Weise dem imaginären Leser gleicht, den der
einzelne, die einzelne Schreibende vor Augen hat. Auch hier regiert also Geld
die Welt.
(...)
Wenn wir unseren Kindern nicht vorleben, was wir ihnen in
der Schule oder als Verhaltensregel vorsetzen, werden wir erleben, dass sich
diese Haltung gegen uns richten wird. Wenn ich meinem Kind nicht mit
Aufmerksamkeit begegne, wie kann ich von ihm Konzentration verlangen? Warum soll
mein Kind Horaz lesen, wenn ich selbst
Horaz nicht achte?
Was können heute
SchriftstellerInnen zur Frage nach Bildung und Erziehung beitragen? Wollen sie
es überhaupt? Manifestiert sich in ihren Arbeiten so etwas wie ein Bild vom
Menschen? Und auf einer konkreteren Ebene: Gibt es in ihren Arbeiten eine
Auseinandersetzung nicht nur mit der eigenen Herkunft, sondern auch mit der
Erziehung von Kindern, jetzt und heute? Gibt es einen Zusammenhang zwischen
unserer oft als kinderfeindlich beschriebenen Gesellschaft und unserer
'Erziehungsmisere'?
Ist es noch zeitgemäß, die alten Fragen überhaupt zu
stellen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir?"
Tanja Langer beantwortet
diese Fragen durch ihren Roman eindeutig mit "Ja".
Der Titel des Romans legt
zwei Vermutungen nahe, die sich beim Lesen nicht bewahrheiten. Zum einen ist die
Geschichte nicht kurz; der Roman zieht sich über stattliche 480 Seiten, ohne
eine einzige Sekunde langweilig zu werden. Immer neue Einsichten, Fragen,
Facetten, Lebenseinsichten stellt Langer dem Leser vor, dass er aus dem
Nachdenken und sich selbst in Frage Stellen, dass er aus dem Schreck oder auch
Spaß des Wiedererkennens eigener Themen gar nicht mehr herauskommt.
Zum
anderen geht es nicht vordergründig um Untreue im herkömmlichen Sinn, auch wenn
Eva, die weibliche Hauptfigur, so ihre Probleme damit hat. Die "Kleine
Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte" ist eine Geschichte über
die Untreue zu sich selbst und die Geschichte einer erstaunlichen Selbstfindung.
Dabei ist Langers Roman keine Spur feministisch. Ich habe als Mann sehr von der
Lektüre dieses wundervollen Buches profitiert.
Eva ist 40 Jahre alt und
lebt mit ihrem Mann Stefan, einem Orchestermusiker der Komischen Oper, am Rand
von Berlin in einem Haus, das sie nach der Wende als Erbe ihrer Mutter
wiederbekommen hat. Die Suche nach ihrer Mutter, die depressiv war, oft für
mehrere Tage im Wald verschwand und dann irgendwann nie mehr zurückkehrte, ist
ein wesentlicher Teil von Evas Suche nach sich selbst. Dabei ist ihre Krise weit
mehr als eine normale Lebensmittenkrise. Ihre Krise und ihre Suche gehen tiefer,
sind existenzieller, religiöser, ehrlicher. Sie stellt sich komplett in Frage,
erst recht, als sie in Bergen während einer Reise auf ein Bild des Malers Edvard
Munch stößt, das sie im Innersten erschüttert.
Und dann führt uns Tanja
Langer auf eine faszinierende und kenntnisreiche Reise in die Welt der Kunst und
der Musik, verbindet Evas Geschichte mit der Biografie Munchs, stellt uns
Sybille und Ludwig vor, ein mit Eva und Stefan befreundetes Artzehepaar mit
jeweils eigenen Lebenskrisen und -themen, und führt uns weit zurück in
eine deutsche Vergangenheit, in der Juden verschwanden und getötet
wurden.
Wieder einmal ist die Vergangenheit nicht vergangen, solange die
Opfer nicht durch die Erinnerung gewürdigt werden. Und es zeigt sich, dass Evas
Krise, das Verschwinden ihrer Mutter und die Deportation einer Freundin von Evas
Großmutter, die ihre Mutter hautnah miterlebte, aber nie verkraftete, auf das
Engste zusammenhängen ...
Dieses Buch ist ein herausragendes Ereignis in
diesem Frühjahr. Es lässt seinen Leser nicht los und wirkt lange nach, weil es
die wichtigen Lebensfragen einfach und leicht stellt, aber sich schwer tut mit
den einfachen und leichten Antworten. Ein Buch, das eine Protagonistin zeigt,
die das, was ihr begegnet, ganz nahe an sich heranlässt. Das macht ihr mehr als
einmal das Leben schwer, aber es bereichert sie so sehr, dass sie als ein
anderer, glücklicherer Mensch das Buch und die Geschichte verlässt, gereifter
und zu sich selbst gekommen, mit Vater und Mutter im Reinen und fähig, endlich
zu lieben und geliebt zu werden .
"Woher kommen wir ? Wohin gehen wir ?",
fragte Tanja Langer am Ende der eingangs zitierten Stellungnahme. Ihr Buch ist
der gelungene Versuch einer persönlichen Antwort darauf.
(Winfried Stanzick; 05/2006)
Tanja Langer: "Kleine Geschichte von der Frau, die
nicht treu sein konnte"
dtv, 2006. 480 Seiten.
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Tanja Langer, 1962 in Wiesbaden
geboren, lebt in Berlin. Sie inszenierte und verfasste Theaterstücke, arbeitete
fortan als Journalistin und Schriftstellerin. Sie schrieb Erzählungen und
Hörspiele. Ihr erster Roman "Cap Esterel" erschien 1999, drei Jahre später
folgte "Der Morphinist oder Die Barbarin bin ich". Sie erhielt Auszeichnungen
und Stipendien und ist Mitglied des deutschen P.E.N.
Lien zur Netzseite der
Autorin:
https://www.tanjalanger.de/.
Weitere Bücher der
Autorin:
"Cap Esterel"
Michel hat Erfolg, als Architekt und bei
den Frauen, doch ein Schatten liegt über ihm. Eine Reise an die Côte d’Azur
weckt Stimmen, die Stimmen zweier Frauen, die sein Leben berührt haben. Für
Elisabeth, die Berliner Fotografin, ist Michel die große Liebe. Hélène ist
allein mit ihren beiden Kindern in St. Raphael. Was war die Tragödie, die Michel
gezwungen hat, zurückzukehren?
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"Der Morphinist oder Die Barbarin
bin ich"
"Immer war es am Ende meiner Schwangerschaften, dass er
aufkreuzte und sich in meinen Träumen festsetzte, mich dickbäuchig und
schwerfällig in Bibliotheken trieb." Bei diesem "er" handelt es sich um Dietrich
Eckart, der 1923 am Obersalzberg wenige Tage nach dem Marsch auf die
Feldherrnhalle in München starb. Ihn, den
Vordenker und ersten Propagandisten
der Nazis, bekommt die Erzählerin nicht aus dem Kopf. Sie muss der Frage folgen,
weswegen dieser verdrehte Geist sich jenen mörderischen Antisemitismus, der im
Völkermord endete, als erster ausgedacht hat ...
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