Katja Lange-Müller: "Böse Schafe"
Gelesen
von Katja Lange-Müller
(Hörbuchrezension)
Die
guten Bösen
Katja Lange-Müllers großartig-ungewöhnliche
Liebesgeschichte
Katja Lange-Müller hat einen Roman über eine
prekäre Liebe in Berlin geschrieben, nicht schön und
romantisch, sondern tiefschwarz, aber trotzdem eigentümlich
optimistisch. Nun liest sie das Buch selbst vor.
"Es gibt drei Wege, um klug zu werden: durch Nachdenken, das
ist der edelste, durch Nachahmung, das ist der einfachste, durch
Erfahrung, das ist der bitterste." Diesen Satz von
Konfuzius
findet die Ich-Erzählerin des Romans "Böse Schafe" im
Tagebuch ihres ehemaligen Freundes Harry. Soja, "weder
-soße, noch -bohne" wie sie ihren
ungewöhnlichen Namen, den sie ihrer Mutter, einer hohen
SED-Funktionärin, und deren Verehrung einer russischen
Partisanin, zu verdanken hat, sarkastisch kommentiert, wird im Laufe
dieses Hörbuches alle drei Wege beschreiten.
Sie, ehemalige Setzerin und jetzige
Gelegenheitsblumenverkäuferin, die 1986 von Ost- nach
Westberlin ausgewandert ist, wird mit dem bittersten Weg beginnen: der
Erfahrung. Diese sammelt die Enddreißigerin in Gestalt von
Harry, den sie am 17. April 1987 kennenlernt, wobei sich wider jede
Vernunft für die nächsten drei Jahre eine Liebes- und
in vielerlei Hinsicht auch eine gegenseitige, schicksalhafte
Abhängigkeitsgeschichte entwickelt.
Soja ist von Harrys subtilen Andersartigkeit fasziniert. Kurz
entschlossen zieht er bei ihr ein. Doch schnell beginnt die
schöne Fassade ihres großen, blonden und
blauäugigen Westberliners abzublättern. Was zuerst
wie ein interessantes Geheimnis wirkte, stellt sich schon bald in
seiner ganzen Nüchternheit dar. Nach und nach erfährt
sie seine ganze Geschichte. Harry ist ein Ex-Häftling,
drogensüchtig und zudem noch
HIV-positiv.
Doch für
die ehemalige Ostfrau, die "mit Westmännern aus
halbwegs sortierten Verhältnissen" nicht klarkommt,
wird Harry eine zunehmende Herausforderung, eine Aufgabe, ihr
Unglücks-Glück. Sie hält zu ihm, auch wenn
sie hilflos mitansehen muss, wie er langsam zugrundegeht. Am Ende wird
sie sich, um selbst zu überleben, aus seinen Armen
lösen.
Zehn Jahre später findet sie in seinen ihr hinterlassenen
Habseligkeiten ein kleines Heftchen, in das Harry während
ihrer gemeinsamen Zeit seine Gedanken, Gefühle und
Lebenskommentare in genau 89 Sätzen schrieb. Und eben dieses
Tagebuch regt sie an, nach-, vielleicht auch umzudenken, bevor sie sich
ganz aufgibt. In den vergangenen Jahren lebte sie mit dem Toten und
fing zunehmend an, ihn nachzuahmen. "Ich war dabei, mich
aufzugeben, bis ich dein Heft las und entdeckte, dass ich ja mit dir
reden, dir sogar schreiben kann." Harrys Lebensgedanken
dienen ihr nun als Erinnerungsstütze, um die Leerstellen ihrer
damaligen gemeinsamen Zeit zu füllen und zu ergänzen.
Auch sie selbst ist eine derartige Leerstelle, denn Harry hat sie in
diesem Heft mit keiner Silbe erwähnt.
So hangelt sich Soja an diesen Sätzen im inneren Dialog mit
Harry, der eigentlich ein Monolog ist, entlang - und der Hörer
mit ihr. Der Titel "Böse Schafe", das wird schnell klar, geht
eindeutig an Harry. Aber er sei einer der "guten Bösen", so
liest Soja, denn "die guten Bösen unterscheiden sich
von den bösen Bösen darin, dass sie nicht mehr
einander Gewalt antun, sondern nur noch sich selbst."
Große Gefangennahme erreicht die Autorin nicht nur durch die
durchaus seltsame Liebe des Süchtigen und seiner dem
Alkohol
nicht abgeneigten "Mausepuppe", sondern auch durch
die gewählte narrative Form. Soja spricht mit Harry wie mit
einem Lebenden. Aber "Böse Schafe" ist der Dialog einer
Liebenden mit einem Toten. Die gewählte Erzählform
ist über weite Strecken die zweite Person, kombiniert mit dem
durchaus unüblichen und seltenen Imperfekt, "Du
(...) döstest vor dich hin, lasest keine Fantasy-Romane,
hörtest nicht The Doors, sprachst kaum." Das
entzieht dem Text auf sanfte Weise die Intimität der
Zwiesprache und erzeugt beim Hörer eine eigenartige, aber
faszinierende Abgerücktheit. Lange-Müller nimmt somit
aufkommender Rührseligkeit sofort jedes Pathos.
Das Hörbuch ist erst einmal recht
gewöhnungsbedürftig. Liebhaber der Altberliner
Sprechweise, die der vorlesenden Autorin deutlich anzumerken ist,
werden entzückt sein. Wer jedoch das Berlinerische
für kein sehr feinfühliges Ausdrucksmittel
hält, hat zu Beginn mit einem gewissen Hörwiderstand
zu kämpfen. Verstärkt wird dies zusätzlich
durch die beinahe monotone, immer leicht distanzierte Vortragsweise der
Autorin, bei der anscheinend willkürlich, manches Wort fast
überbetont wird. Doch die Erzählung entwickelt einen
derart starken Sog, der den anfänglichen akustischen
Widerwillen recht schnell überwinden lässt. Und
letztendlich ist es gerade Katja Lange-Müllers tiefer, rauer
Stimme zu verdanken, dass der im Buch vorherrschende
volksmundig-schnoddrige, teilweise derb-ordinäre Gossenjargon
"stilecht" vorgetragen wird und geradezu prädestiniert
für derartig milieuechtes Erzählen ist. Das epische
Ausloten tiefster menschlicher Sphären wirkt dadurch extrem
authentisch.
Am Ende ist der Hörer berührt und
erschüttert von Harrys und Sojas ruhiger, unaufdringlicher,
einfühlsamer, gar zärtlicher und dennoch mehr als
trauriger, ja nahezu schmerzhafter großer Liebesgeschichte in
kleinem Milieu. "Böse Schafe" bleibt bis zum Schluss
unprätentiös, unglaublich realistisch, frei von allen
Klischees und ist vor allem weit davon entfernt, auch nur an einer
Stelle kitschig zu wirken.
Erzählt wird jedoch nicht nur eine Liebes- und
Lebensgeschichte auf dem harten Boden der Realität.
"Böse Schafe" ist ebenso ein Buch über
deutsch-deutsche Vergangenheit und die Disharmonien und Brüche
der Geschichte einer Stadt, die es so nicht mehr gibt. Harry und Soja
stehen dabei stellvertretend für das geteilte Berlin. Beide
heißen zwar - zufällig - Krüger, doch jeder
Krüger ist anders, und es kommt eben nicht so leicht zusammen,
was auf den ersten Blick zusammengehört.
Großartig gelingt der Autorin die Entmystifizierung der Stadt
Berlin der unmittelbaren Vorwendezeit. Nicht das große
glänzende Schlaraffenland stellt Lange-Müller dar,
sondern eine kaputte und reizlose "Insel der Unseligen", in der sich
Soja mehr schlecht als recht eingerichtet hat. Auch die
Öffnung der
Mauer,
die Harry nur wenige Monate
überlebt, skizziert die Autorin nicht als großen
Befreiungsschlag. Für sie waren "die Ost-, West-
oder Doppelberliner wie Asseln, die nach Asselart unter Steinen gelebt
hatten." Als diese dann fortgenommen wurden, "irrten
sie kopfscheu herum, die kleinen Wesen, oder stellten sich tot - und
wünschten sich nur ihre Heimatsteine zurück; die
Dunkelheit, die Ruhe, eben das, was sie gewohnt waren."
Katja Lange-Müller ist mit "Böse Schafe" ein
wunderbar trauriger, berührender und sehr intensiver Roman
über Glück und Unglück der Liebe,
über das Berlin der Vor-Wende-Ära und über
das Leben gelungen. Treffend formuliert es die "Süddeutsche
Zeitung": "Eine nackte Wahrheit, aber diese Nacktheit ist
eine poetische Kraft."
Sehr lesens- und auch sehr hörenswert.
(Heike Geilen; 12/2007)
Katja
Lange-Müller: "Böse Schafe"
Gelesen von Katja Lange-Müller.
Der Hörverlag, 2007. 5 CDs; Laufzeit ca. 340 Minuten.
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Buchausgabe:
Kiepenheuer & Witsch, 2007. 208 Seiten.
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Katja Lange-Müller wurde 1951 in Berlin-Lichtenberg geboren.