Jeff Saward: "Das große Buch der Labyrinthe und Irrgärten"

Geschichte, Verbreitung, Bedeutung


"Die Geschichte des Labyrinths und der Irrgärten ist so verwirrend und verschlungen wie die Figur selbst."

Mit diesen Worten lädt Autor Jeff Saward den erkundungsfreudigen Leser zum Eintritt in einen prächtigen Bildband über Geschichte, Verbreitung und Bedeutung von Labyrinthen respektive Irrgärten. Womit gleich mal eine grundlegende Unterscheidung getroffen wird: Die meisten Labyrinthformen haben nur einen einzigen Weg, der - in zahlreichen Windungen - vom Eingang zum Zentrum führt. Irrgärten hingegen sind eine gartenbauliche Fortführung des klassischen Labyrinths, meist mit Hecken ausgestaltet, die nicht selten als Sackgassen enden und hindernisreich zum Ziel führen.

Allein schon der griechische Name labyrinthos sorgt für verschlungene akademische Dispute. 1892 äußerte sich der deutsche Archäologe Maximilian Mayer dahingehend, dass das Wort von der Vokabel labrys ("Haus der Doppelaxt") herrührt. Sir Arthur Evans' Ausgrabungen in Knossos (ab 1900), wo der Sage nach das berüchtigte Labyrinth des stierköpfigen Minotaurus gestanden haben soll, schienen dies vorerst zu bestätigen. Überall in den Ruinen des kretischen Königspalastes fand man Steinritzungen oder Votivgegenstände mit dem Symbol der Doppelaxt. Heutigen Überlegungen zufolge ist diese Wortherleitung nicht länger haltbar, da Doppelaxt auf Minoisch (der damaligen Sprache Kretas) wao hieß, die griechische Bezeichnung pelekys lautete, und labrys aus dem Karischen stammt, einer kleinasiatischen Sprache, die in Knossos sicher nicht gesprochen worden war. Die moderne Archäologie geht davon aus, dass Labyrinth als "großer Steinbau" zu übersetzen ist; eine Bezeichnung für den Palast- und Tempelkomplex von Knossos, der schon lange in Schutt lag, ehe Homer darin die Geschichte um König Minos, Ariadne, Theseus und den Minotaurus ansiedelte.

Ein Wort zum Autor: Jeff Saward, Historiker und Fotograf, lebt in Essex, Südengland. Er ist Gründer und seit über zwanzig Jahren Herausgeber der Zeitschrift "Caerdroia" (Walisisch für "Stadt Troja"), die sich ausschließlich mit der Erforschung von Labyrinthen und Irrgärten befasst. Weltweit zählt er zu den führenden Experten in diesem ungewöhnlichen Forschungsbereich. Um es vorwegzunehmen: Den genauen Grund für das Auftauchen erster Spiral- bzw. Mäandermuster kann auch Saward wissenschaftlich nicht erklären, zu unterschiedlich sind die Darstellungen und Entstehungszeiten. Fest steht nur, dass die ältesten erhaltenen Labyrinthdarstellungen Steinritzungen sind.

Früheste Labyrinthornamentik
Auf europäischem Boden reichen die frühesten Datierungen bis etwa 2000 v. Chr. zurück. Als Beispiel seien hier die Petroglyphen von Pontevedra im spanischen Galicien genannt. Ein jungsteinzeitliches Felsengrab auf Sardinien, die Tomba del Labirinto in Luzzanas, weist ebenfalls Spiralritzungen auf; Bedeutung unbekannt. Noch heute heißen diese auf der Mittelmeerinsel weit verbreiteten archaischen und geheimnisumflorten Ruhestätten "Feenhäuser". In den italienischen Alpen, im Val Camonica, finden sich weitere Ritzungen, die neben der Spiralmusterung auch Krieger und Tiere abbilden. Auf das Jahr 750 v. Chr. schätzen Archäologen die etruskische Vase von Tragliatella, die aufgrund ihrer Inschriften "TRVIA" bzw. "MI VELENA" nach Interpretation einiger Forscher Szenen aus dem Trojanischen Krieg wiedergibt. Ein Tontäfelchen, gefunden im Palast des Königs Nestor in Pylos (Südgriechenland), ist ebenfalls labyrinthgemustert. Da seine Vorderseite Linear-B-Schriftzeichen zeigt, ist es wahrscheinlich in der Zeit zwischen dem 16. und 12. Jh. v. Chr. entstanden. Nestor scheint in Homers "Ilias" als Griechenführer ebenfalls vor Troja auf. Um 285 vor unserer Zeitrechnung tauchen auf Kreta labyrinthverzierte Münzen auf, auf deren Avers oft Stierköpfe zu sehen sind (Minotaurus!). Auch bei den Römern war das Labyrinthmuster bekannt, was ein Graffito aus dem antiken Pompeji belegt. Weitere Funde reichen von der Türkei über Syrien und Ägypten bis Marokko. Ein eigenes Kapitel hat Saward der Kunst römischer Labyrinthmosaiken gewidmet.

Labyrinthsymbole außerhalb Europas
Nach Asien dürfte das Labyrinthmuster im 4. Jh. v. Chr. durch Alexander den Großen gekommen sein. Aufgrund von Handel und kulturellem Austausch stößt man mittlerweile von Afghanistan bis zur indonesischen Inselwelt auf die charakteristischen Spiralmuster. Am weitesten verbreitet ist es dabei am indischen Subkontinent. Im großen Epos der Inder, dem "Mahabharata", spielt das Labyrinth als Schlachtformation eine taktische Rolle. Bei Kurukshetra versucht der Zauberer Drona dem Heer der Kauravas gegen die Pandavas den Sieg zu sichern, indem er eine radförmige Kampfaufstellung (Chakra-Vyuha) ersann, die selbst "die Götter schwerlich durchdringen könnten". Aber der Held Abhimanyu fand den Weg hinein ins Kriegerlabyrinth und erschlug der Feinde viele, ehe er im Zentrum angelangt pfeilgespickt selbst sein Leben ließ. Eine andere Erzählung berichtet von der prachtvollen Stadt Lanka, die hoch über dem Äquator geschwebt haben und von einer labyrinthartigen Befestigung umgeben gewesen sein soll. In Nepal befinden sich - im Urwald verborgen - die Überreste der historisch belegten Stadt Scimangada, die ebenfalls als Labyrinth dargestellt worden war.

Auf dem afrikanischen Kontinent südlich der Mittelmeerzone fehlt die Labyrinthornamentik. Hingegen taucht das Spiralmuster in Nordamerika, in den hochgelegenen Wüsten Arizonas und Neumexikos auf. Im Chaco Canyon oder Mesa Verde hat es die Jahrtausende überstanden. Seine Schöpfer sollen die legendären Völker der Hohokam und Anasazi gewesen sein, deren Nachfahren die nicht minder geheimnisumwitterten Hopi sind. Heutzutage zieren Labyrinthdarstellungen Touristenartikel wie z.B. Flechtkörbe und Teppiche. Über ihren ursprünglichen Sinn als Sinnbild der Schöpfung ist nur mehr wenig bekannt.

In Südamerika zeigen die kilometerlangen Bodenritzungen auf dem Hochplateau von Nazca (Peru) - neben Tierdarstellungen - spiralförmige Strukturen. Wer diese gewaltigen Petroglyphen auf welche Art und zu welchem Zweck schuf, ist heiß umstritten.

Das Labyrinth im christlichen Mittelalter
Nirgendwo anders durchlief das Labyrinthmuster eine stärkere Fortentwicklung als im Europa des christlichen Mittelalters. Es wurde als Symbol des legendären Troja, der heiligen Stadt Jerusalem sowie der Mauern von Jericho interpretiert. Dabei taucht es in unterschiedlicher Ausprägung auf: quadratisch, achteckig oder kreisförmig. Ineinander verschachtelte Kreise zieren viele so genannte klösterliche "Labyrinthhandschriften" (Admont, Regensburg, Freising, St. Gallen, Auxerre, Hereford, etc.) Aber auch in der sakralen Architektur fasste das Labyrinth Fuß. Am beeindruckendsten ist wohl das in den Steinboden des Kirchenschiffs der Kathedrale von Chartres eingelassene Kreislabyrinth. Im Zeichen der Gotik Anfang des 13. Jahrhunderts entstanden, fasziniert es heute noch - kerzenumrahmt - die Besucherscharen. Der Überlieferung zufolge dienten Bodenlabyrinthe dieser Art als spirituelle Wanderung zum Erlöser Christus ("Die Wege des Herrn sind unergründlich") bzw. als Ersatz einer Pilgerfahrt nach Jerusalem, die in kriegerischen Zeiten oft nicht möglich war. Seit dem 18.Jh. sprachen französische Quellen daher von "Chemins de Jérusalem" ("Wege nach Jerusalem"). Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Wiederbelebung gotischer Labyrinthmuster in Sakral- wie Profanbauten Frankreichs, Großbritanniens, der Niederlande und auch in Dänemark.

Rasen- und Steinlabyrinthe
"Vielerorts gab es in Deutschland und auf den Britischen Inseln den Brauch, dass sich die Menschen an schönen Tagen und an manchen Festtagen an Rasenlabyrinthen zu Tanz und Zeremonien versammelten. Rasenlabyrinthe waren Jahrhunderte lang Schauplatz rustikaler Vergnügungen, bis sie nicht mehr gepflegt wurden, in Vergessenheit gerieten und verschwanden", erklärt Jeff Saward. Im Unterschied zu den ziemlich planen Ritz-, Boden oder Mosaiklabyrinthen handelt es sich bei Rasenlabyrinthen sozusagen um die 3D-Ausgestaltung dieser geometrischen Figur. Das Anlegen gestaltete sich nicht sonderlich schwierig: Die Labyrinthfigur wurde einfach aus der Grasnarbe ausgestochen und bildete gleichsam den Weg. In der Regel waren Rasenlabyrinthe kreisförmig mit einem Durchmesser von 9 bis 25 Meter konstruiert. Manche waren von kleinen Wällen umgeben, andere hatten in ihrer Mitte eine hügelige Erhebung. Der Ursprung dieser Labyrinthform ist ungeklärt. Im Süden Englands tragen sie den Namen mizmazes, was vom altenglischen Wort "maze" ("Verwirrung") herrührt, anderswo auf der Insel kennt man sie als Maiden’s Bower ("Jungfrauenlaube"). Diese Bezeichnung entsprang einem Brauch, wonach in der Labyrinthmitte ein Mädchen wartete, während von verschiedenen Eingängen zwei Burschen einen Wettlauf zur holden Jungfrau starteten. In Schweden ist diese Tradition als Jungfrudans überliefert. Vielerorts in Skandinavien trugen Rasenlabyrinthe den Namen "Trojaburg", das Mädchen im Zentrum der Spirale war wohl ursprünglich mit Helena gleichgesetzt, während die beiden Wettläufer stellvertretend für Griechen und Trojaner antraten. Da Rasenlabyrinthe naturgemäß leicht zuwuchern, blieben die meisten nur mehr aus den Chroniken in Erinnerung.
Ebenfalls im skandinavischen Raum anzutreffen sind Steinlabyrinthe aus spiralförmig angelegten Felsbrocken. Aufgrund ihrer sprichwörtlichen Hartlebigkeit haben sie die Jahrhunderte überdauert. Ihre Erbauer waren Fischer oder Jäger, die Meer bzw. Wetter gnädig stimmen wollten. Meist findet sich diese Labyrinthform auf Inseln oder Landzungen. Bei Dritvik, im äußersten Westen Islands, dürfte wohl der abgelegenste Bodensteinkreis Europas liegen, das so genannte "Wielands Haus". Weit im Osten des Kontinents, in Estland, Finnland und im arktischen Russland sind weitere Labyrinthanlagen aufzufinden. Jener von Sajazki rechnen manche Forscher ein Alter von fast 4.000 Jahren zu.

Gartenlabyrinthe und Irrgärten in Renaissance und Barock
Der erste Beleg für ein mit Hecken gestaltetes Labyrinth stammt aus dem Paris des Jahres 1431; darin ist vom "Haus des Dädalus" die Rede. Dass es auch in England bald Heckenlabyrinthe gab, bezeugt das Gedicht "The Assembly of Ladies" (Autor unbekannt; um 1450), in dem die Bemühungen einer Damenrunde geschildert werden, ins Zentrum der Heckenwege zu gelangen. Was vorerst nur das Vergnügen hoher Fürsten war, erfasst mit dem Fortschreiten der Renaissance den Adel als solchen. Vor allem in Italien schmückten Labyrinthmuster Decken, Böden oder prangten von Gemälden. Im Barock hatte dieses Fieber auf Frankreich und England vollends übergegriffen. In Versailles entstand 1699 ein Boskettirrgarten, bestehend aus miteinander verbundenen Wegen, die schneisenartig durch einen Wald führten. An den Kreuzungspunkten gaben Skulpturen und Springbrunnen Motive Äsopscher Fabeln wieder. Das Betreten dieses Irrgartens diente weniger der intellektuellen Herausforderung, als der Erbauung während eines Spaziergangs im Grünen. Wenige Jahre danach entstand eine verkleinerte Kopie des Boskettirrgartens von Versailles im Friar Park von Henley-on-Thames. Bei den Weggabelungen waren insgesamt 39 Sonnenuhren installiert.
"An der Wende zum 19.Jh. sank der Stern der Irrgärten in ganz Europa", schreibt Saward. Ab nun war es Mode, unbelassene Natur, nicht getrimmte Baum- und Heckenmuster künstlerisch zu verewigen. Eine Ausnahme bildete der britische Mathematiker Earl Stanhope, der die Landkartentheorie auf die Planung von Labyrinthen anwandte und Irrgärten mit einer Vielzahl von toten Enden anlegte. Seine Parkanlagen glichen einem in Hecken versteckten Formelrätsel.

Das Labyrinth in der Moderne
Einerseits wurden historische Heckenirrgärten (wie der in Saffron Walden) revitalisiert, andererseits neue Projekte, mit hölzernen Aussichtsplattformen und Türmchen, fertiggestellt, so z.B. 1975 Longleat House in Südengland. Zwei Jahre zuvor entstand in Wanaka, Neuseeland, das erste Stellwandlabyrinth, eine Anlage aus mobilen rot und grün gefärbten Zwischenwänden, die zum Amüsement der Touristen jederzeit so verstellt werden können, dass das Labyrinth seinen Lauf verändert. Daneben kamen Wasser- und Spiegellabyrinthe auf. In den USA erfreut sich vor allem eine Form großer Beliebtheit, das Maislabyrinth in Kornfeldgröße. 1990 schuf der Künstler Italo Lanfredini in den Hügeln oberhalb des Castel di Tusa (Sizilien) eine Spiralanlage aus terrakottafarbenen Betonwänden. Dieses Labyrinth trägt den Namen "Arianna" und soll an den Eintritt des Menschen in die Welt aus dem Mutterschoß erinnern.

All das hier Beschriebene ist nur ein kleiner Auszug aus dem reichen Datenmaterial, das Jeff Saward zum Thema Labyrinthe und Irrgärten zusammengetragen hat. Trotz der Fülle an neuen Begriffen und der damit verbundenen, in Stakkatoform eintreffenden Information, gerät der Leser in keine Irrungen und Wirrungen. Das mag vor allem daran liegen, dass Skizzen, Zeichnungen und Fotos das geschriebene Wort stets zum richtigen Zeitpunkt grafisch auflockern und veranschaulichen. Fazit: Ein kultur- und kunstgeschichtlich hoch interessantes Buch, das nach einmaligem Lesen jederzeit als Nachschlagwerk nützliche Dienste leisten kann.

(lostlobo; 10/2004)


Jeff Saward: "Das große Buch der Labyrinthe und Irrgärten"
(Originaltitel "Labyrinths and Mazes of the World")
AT Verlag, 2003. 223 Seiten.
ISBN 3-85502-921-0.
ca. EUR 40,10.
Buch bei amazon.de bestellen

Lien:
https://www.labyrinthos.net/caer.htm

Noch ein Buchtipp:

Jürgen Hohmuth: "Labyrinthe und Irrgärten"
Zehntausende Besucher können nicht irren? Sie tun es dennoch - und zwar absichtlich! Ob in Schlossgärten oder auf Maisfeldern, traditionelle und moderne Labyrinthe und Irrgärten erfreuen sich neuer Beliebtheit. Der Einsatz eines Mini-Zeppelins ermöglichte dem Fotografen Jürgen Hohmuth ganz besondere Ansichten: der Überblick aus der Vogelperspektive, dem kein Detail am Boden entgeht. Faszinierende Bilder entführen in die schönsten und ungewöhnlichsten Labyrinthe und Irrgärten Europas.
Nicht erst König Minos machte sich beim Bau seines Palastes auf Kreta verschlungene Gänge zu Nutzen, auch ältere Kulturen bedienten sich der raffiniert angelegten Wege. Im Mittelalter wurden die rätselhaften Formen in den Böden großer Kirchen verewigt und seit dem Barock sind sie schmückender Bestandteil europäischer Gartenarchitektur.
Gleichgültig ob ein einziger Weg zu ihrer Mitte führt oder ob sie als Irrgarten mit vielen Abzweigungen angelegt sind, Labyrinthe spiegeln die verschlungenen Wege des Lebens wider. Für diesen Band öffneten englische Lords ihre Gärten, in den Hinterhöfen unserer Großstädte galt es Steinlabyrinthe und in den Maisfeldern auf dem Lande neue Irrgärten zu entdecken.
Fotograf Jürgen Hohmuth hat europaweit die schönsten und faszinierendsten Labyrinthe und Irrgärten mit einem ferngesteuerten Kleinluftschiff aufgenommen, das ihm einen neuen, "schrägen" Einblick ermöglicht: Labyrinthe und Irrgärten sind nicht nur Kunstwerke verträumter Gärtner oder Kultplätze vergangener Kulturen, ihre Anziehungskraft wirkt auch heute: als Orte der Stille und Besinnung und der spielerischen Freude des Menschen am Verlieren und Wiederfinden. (Frederking & Thaler)
Buch bei amazon.de bestellen