Thor Kunkel: "Endstufe"


Geld, Geschäfte und Geschlechtsverkehr im Dritten Reich

"Wir können über alles offen reden in Deutschland, doch wenn es um dieses Thema geht, werden bestimmte Pawlowsche Verbalreflexe abverlangt: mehr Bezug zum Grauen, Betroffenheitsgebärden, explizite Darstellung der Nazibrutalität. Doch diese Sorte Ablasszettel schreibe ich nicht. Es können Verbrechen nicht vergeben oder relativiert werden dadurch, dass man sie aus Rücksicht auf politische Korrektheit immer wieder darstellt und nacherzählt. Ich glaube, dass es wichtig ist, das Dritte Reich unter dem Blickwinkel der Verführung und Verblendung zu sehen." (Thor Kunkel im Interview mit der deutschen Illustrierten "Stern" am 12. Februar 2004)

Kunkels Buch spielt größtenteils in Deutschland und Nordafrika der ersten Hälfte der Neunzehnvierziger Jahre, während der sogenannte Zweite Weltkrieg tobte. Sehr viel Kriegsgeschehen wird aber nicht geschildert, die handelnden Personen des Romans sind überwiegend junge Leute unter Vierzig, die vom Krieg profitieren oder es zumindest vorhaben; meist aus der besseren Gesellschaft können sie es sich leisten, ihren Lebensstil aus Friedenszeiten mehr oder weniger beizubehalten. Es sind dies: Holsten, ein Kameramann, der keine Lust auf die Ostfront hatte und kurzerhand desertierte; Ferfried Graf Gessner genannt Ferrie, ein Abteilungsleiter des SS-Hygieneinstituts, der für Rommels Mannen neue Insektengifte herstellen soll; sein karrieresüchtiger Assistent Fußmann; ein ehemaliger, unter schmachvollen Umständen entlassener Lebensborn-Arzt, der nun in seiner Privatklinik deutschen Frauen hilft, das Mutterkreuz zu bekommen; Detsen, ein Erdölagent mit zuhälterischen Nebenambitionen und Lotte, eine Nobelprostituierte mit der Tätowierung "Sieg Geil" auf ihrem Luxuskörper. Mit Ausnahme des Kameramanns sind sie alle Nazis, aber nicht in dem Sinn, wie man sie vorzugsweise serviert bekommt, nämlich als fast gänzlich von ihrer unmenschlichen Ideologie getriebene Menschen, vielmehr passen sie sich unbedenklich an die herrschende Ideologie (bei Kriegsende dann an die der Besatzer) an, um so ihre eigenen Zwecke, und bestehen diese auch nur in einem angenehmen Leben, in Geld, Geschäften und Geschlechtsverkehr, besser verfolgen zu können. Zu Beginn fußt das Geschäftemachen noch auf kühnen Träumen von deutschen Eroberungen, einem Riesenreich mit ungeahnten Möglichkeiten, und geht, sowie sich der Krieg langsam zuungunsten des Deutschen Reichs entwickelt, in Schwarzmarktgeschäfte, Schmuggelmanöver und Nachkriegsspekulationen über.

Ferrie nutzt seine bakteriologiebedingten Aufenthalte in Nordafrika, um sich in Sachen Erdöl und Grundstücken umzusehen. Als Bezahlung führt er selbstproduzierte Pornofilme im Gepäck mit, von denen er sich in Zukunft gewaltige Märkte erhofft. Sein Hauptkunde ist ein reicher Schwede, der ihm im Gegenzug kostbares Eisenerz zu liefern verspricht, dafür aber höchste Qualität sehen will. So wird denn Lotte (Künstlername: "Lolotte d'Amour", später dann dem Kriegsverlauf entsprechend "Lola Mortis") engagiert, Fußmann schafft illegale Farbfilme aus Berlin an (gedreht wird auf Ferries Jagdhütte in der Nähe des Obersalzberges), doch der männliche Pornodarsteller ist auf einmal verhindert. Damit nicht alles umsonst sei, zumal die Zeit drängt und es an der Ostfront zu immer häufigeren taktischen Rückzügen kommt, verfällt Holsten auf die Idee, kurzerhand auf Fußmann zurückzugreifen. Lotte wird eingeweiht, und da sie die bedeutende Gage nicht entbehren und die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen möchte, willigt sie ein, mit dem ahnungslosen Fußmann einen Spaziergang zu einem nahegelegenen See zu unternehmen und ihn dort zu verführen, während der versteckte Holsten die Szene heimlich filmen wird. Was Holsten nicht weiß, ist, dass Detsen, Lottes Verlobter, nicht nur gerne Pornofilme sieht, sondern auch ziemlich sadistisch veranlagt ist, und schon gar nicht ahnt er, dass sich der bislang nur mit einfacher Hausmannskost bekannte Fußmann rasend in Lotte verlieben wird. Tatsächlich bekommt Detsen den Film zu sehen und Ferrie so einen Feind mit besten Gestapo-Beziehungen, was zu einer Zeit, da er sich, ehe es zu spät ist, mit seinem Geschäftspartner, dem Ex-Lebensborn-Arzt, nach Nordafrika absetzen will, denkbar ungünstig ist.

Soweit handelt es sich um einen recht spannend und flott geschriebenen Thriller, doch natürlich geht es anbetracht der sonstigen Umstände um mehr, vor allem ein starker Verbindungsstrang zur Jetztzeit wird herausgearbeitet, sodass man manchmal nicht recht weiß, ob die Szene damals spielt, heute oder in einer vom Autor geschaffenen, die diversen Kontinua anschaulich machenden Zwischenzeit. Unübersehbar sind etwa die Parallelen zwischen dem damaligen Deutschen Reich und den heutigen Vereinigten Staaten, zum einen in dem Bestreben des Sicherstellens von Rohstoffen, allen voran Erdöl (auch der Wüstenfuchs war ja nicht der Gänse wegen in Afrika, die Briten nicht auf Flucht vor dem Regen), zum anderen in dem auf pseudowissenschaftlichen Fakten und überlegener Technologie fußenden Superioritätsgefühl, welches sich an der Macht, neue Fakten zu schaffen, berauscht, fremde Eigenheiten geringschätzt und ohne jegliche Skrupel drauflos erobert. Die Verflechtungen von Politik, Technologie und Wirtschaft werden deutlich gemacht, manchmal vielleicht etwas zu deutlich, wenn die vielen Bezüge zur Gegenwart selten aber doch zu Lasten der Historizität, die bei derartiger Brisanz einen hohen Wert darstellen würde, gehen.

Seinen stärksten Reiz bezieht der Roman wohl daraus, auf rechte saloppe Art, ohne die üblichen Abscheu- und Betroffenheitsetuden über Nazis zu schreiben, nicht gerade über den Alltag, doch über Dinge, die vorher und nachher nicht so viel anders waren, Modeschauen, Cocktailpartys, Verlobungen und dergleichen mehr. Und auch klassische Nazi-Symbole werden in einem neuen Licht gezeigt: SS-Uniform zu tragen, obwohl zum Anlass Zivil besser passen würde, soll dazu dienen, den Mädels zu imponieren, Bankdirektorensöhne brüsten sich damit, wie tief Hitler bei ihrem Herrn Papa in der Kreide steht, und führen den nach ihm benannten Gruß wenn überhaupt, in schwuchtelhafter Weise aus. Ganz schuldlos an den vielen Anfeindungen, denen das Buch vor der Veröffentlichung ausgesetzt war, ist der Autor insofern nicht, als er bei manchen Tabubrüchen Ausgewogenheit und Sensibilität vermissen lässt. Insbesondere ein Unterton bieder-patriotischer Empörung, der beim Schildern der alliierten Massenbombardements oder der russischen Massenvergewaltigungen, an sich ja durchaus kritikable Vorgänge, mitschwingt, will wenig zur amoralischen Grundatmosfäre des Buches passen und hinterlässt in Anbetracht dessen, dass die Verbrechen der Nazis, die solches erst heraufbeschworen haben, nicht oder nur beiläufig erwähnt werden, einen unguten Nachgeschmack. Womit aber auch schon das Anrüchigste, was dem Buch anhaftet; genannt wäre; wenn man daher Kunkel unterstellt, es gehe ihm bei seinem Durchbrechen herkömmlicher Nazi-Bilder um Verharmlosung durch ein schrittweises Erweitern dessen, was gerade noch erlaubt ist, erscheint dies weit hergeholt, gespeist möglicherweise von der Besorgnis, die Deutschen würden nur auf die günstige Gelegenheit warten, rückfällig zu werden. Wobei in diesem Fall zu bedenken wäre, ob nicht ein klarer differenzierter Blick auf die verschiedenen Aspekte der NS-Zeit und ihre jeweiligen Schicksale dem vielbeschworenen Wehren der Anfänge letztlich eher dient als Verteufelungen a priori, mit welchen man auf gar wackligen Beinen steht, leicht manipulierbar wird und eh man sich's versieht zu dem geworden ist, das zu bekämpfen man auszog.

Wer sich, was das Thema Sexualität im Dritten Reich betrifft, typisch faschistische Sexualperversionen erwartet hat, wird bei "Endstufe" nicht auf seine Rechnung kommen, ihm sei, falls er ihn nicht kennt, der Film "Die 120 Tage von Sodom" von Pier Paolo Pasolini empfohlen, wo die Beziehung zwischen Ideologie, persönlicher Niedertracht und ausgelebten Sexualfantasien klar, um nicht zu sagen in einem brutalen Hyperrealismus gezeigt wird. Bei Kunkel wird, abgesehen von gewissen Anspielungen auf die sexuellen Vorlieben diverser NS-Größen, Hermann Göring etwa soll ähnliche wie Bill Clinton gehabt haben, Goebbels wird verständlicherweise öfter als einmal erwähnt, auch hier kein großer Unterschied zur Gegenwart gemacht, allenfalls ein gewisses Vorläufertum hervorgehoben; Heuchelei gab's damals wie heute, Berlin war noch nie ein Hort der Tugend, und ohne Bordelle kamen auch die Nazis nicht aus. Am ehesten noch gemahnt der Kult des Körperlichen, der starke, gesunde Leib, der keiner Seele oder Moral, nur eigenen Gesetzen gehorcht, das "jubelnde Fleisch", wie es laufend beschworen wird, an die Gedankenwelt der NS-Zeit. Unter diesen Vorzeichen gerät Liebe zu einer bloßen Sache von Hormonen oder in seiner elitäreren Ausprägung zu einer des Magnetismus, dementsprechend häufig wird in dem Buch auch kopuliert. Diesbezüglich kommt der Roman stellenweise recht flach daher, indem die beschriebenen Liebesszenen nicht immer ohne Frasenhaftes auskommen und seine Protagonisten nur Sexus und Mammon als Triebfedern ihres Tuns zu kennen scheinen. Dass sich diese beiden Gottheiten in dem Versuch der Einführung einer mythologischen Ebene in einen Kampf um die Vorherrschaft verwickeln, kann, da viel zu kurz ausgeführt (vielleicht fiel ja auch wesentliches Material dem Zensor zum Opfer), den mangelnden Tiefgang bestenfalls andeuten, eher vermögen da die eingängigen Beschreibungen von Hörigkeit, frühem Techno-Sex und einige schön ausgeführte Liebespaar-Dialoge für sonstige Unstimmig- und Clichéhaftigkeiten zu entschädigen.
In der Summe jedenfalls kann der Roman trotz seiner Schwächen als nicht nur an den heiklen Stellen interessant, sondern durchaus genussvoll zu lesen empfohlen werden.

(fritz; 05/2004)


Thor Kunkel: "Endstufe"
Eichborn, 2004. 600 Seiten.
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Thor Kunkel wurde am 2. September 1963 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte bildende Kunst und arbeitet seit 1985 für Werbung und Film. Nach fünf Jahren in London lebt er seit 1990 in Amsterdam. Für seinen ersten Roman "Das Schwarzlicht-Terrarium" wurde er beim "Ingeborg-Bachmann"-Wettbewerb 1999 mit dem "Ernst-Willner-Preis" ausgezeichnet.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Schaumschwester"

Die Verschwörung der Sexpuppen. Eine unbestimmte Zeit in naher Zukunft, die Menschheit steht vor einem Problem: Die Erdbevölkerung schwindet drastisch, die sozialen Sicherungssysteme drohen zu kollabieren, die Macht der Politiker zu bröckeln. Nach einem Gipfeltreffen wird der zynische Geheimagent Kolther mit einem heiklen Auftrag betraut: Er soll das Komplott einer Sexpuppenfirma verhindern, der es gelungen ist, so wirkungsvolle "Schaumschwestern" herzustellen, dass sich die Menschheit, den Puppen verfallen, nicht mehr fortpflanzt. Doch Kolther, der erst nach und nach die Hintergründe seines Auftrags versteht, wird selbst zum Spielball seiner Auftraggeber. Kann er, in Begleitung seiner so schönen wie schlauen Kollegin Lora, das Komplott hinter dem Komplott aufdecken und die Menschheit retten? Eine moderne Pygmalion-Geschichte zwischen E. T. A. Hoffmann und Hans Bellmer, und gleichzeitig ein rasanter, spannender und aberwitziger Spionageroman, der von der Ablösung des Menschen durch seinen nächsten Evolutionssprung erzählt. (Matthes & Seitz)
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"Das Schwarzlicht-Terrarium"
Frankfurt 1979: Kuhl hat die Lehre geschmissen und jobbt als Nachtwächter in einem Parkhaus. Seine Freunde sind der weggedriftete LSD-Astronaut Rio, Fußmann, ein größenwahnsinniger Laborant auf der Suche nach dem "chemischen Fernsehen", und G.I. Eddie, der als "Black Elvis" Karriere machen will. Nebenbei handelt er mit Waffen, und eine davon fällt eines Tages auch für Kuhl ab ... Kunkel hat den Fundus der Disco-Jahre geplündert.
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Leseprobe:

DIE ORDNUNG DER SCHATTEN
1. Infiziert
Jede Revolution geht auf Naturzustand hinaus, Gesetz- und Schamlosigkeit.
Johann Wolfgang von Goethe

Zwischen Wolkenbruch und Sonnenuntergang klaffte der Himmel über Berlin wie der offene Bauch einer frisch geschlachteten Sau. Rosige Aussichten, dachte Karl Fußmann. Er spielte unbewusst mit einem Pendel, das in einem Radius von zwanzig Zentimetern um seinen Zeigefinger kreiste. Jede Wicklung des Fadens presste Blut in die kalte Fingerspitze und verursachte dort ein warmes Gefühl.

Er saß in der Kantine des SS-Hygiene-Instituts, Westflügel, dritter Stock. Ein festlich beleuchteter Zeppelin stieg gerade über dem nahen Schlachtensee auf, die Hakenkreuze am Leitwerk erinnerten aus dieser Entfernung an kleine Propeller. Ansonsten bot das Panoramafenster einen eher trostlosen Ausblick auf die Spanische Allee. Die andere Seite, die fensterlose, grenzte an die neue histopathologische Abteilung. Hinter der Wand wurden täglich Leichen seziert, aber Fußmann störte das nicht. Er aß hier regelmäßig zu Mittag.

Der Humanismus funktioniert nicht, weil der Mensch nicht human ist, dachte Fußmann. Wir leben in einer gewalttätigen Welt. Wille und Macht stehen über Geist und Recht. Die Moral ist ein Hemmschuh der Intelligenz. Er hielt das für eine fundamentale Erkenntnis und wähnte sich auf dem richtigen Kurs. Wie viele kleine Angestellte philosophierte auch er über den Lauf der Welt. Im Nationalsozialismus witterte er die Chance, "der menschlichen Entwicklung Beine zu machen".

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