Milan Kundera: "Der Vorhang"
Essays
Bereits
im Jahr 1986 hat Kundera eine Abhandlung über "Die Kunst des Romans"
geschrieben, wobei er sich eingehend mit Cervantes, Kafka und Broch
beschäftigte.
Lange Passagen der Selbstinterpretationen seiner Werke "Der Scherz"
und "Die
unerträgliche Leichtigkeit des Seins" wechseln mit Beobachtungen zur
modernen Romantechnik ab. Er gibt auch einige Tipps, welche den Leser
dazu befähigen
mögen, sich selbst an die "Kunst des Romans" zu wagen.
Nunmehr, viele Jahre später, schreibt Kundera wiederum über "die
Kunst des Romans" und erwähnt diesen Terminus nicht unbedingt
selten. "Der
Vorhang" mag als Erweiterung seiner seinerzeitigen Ausführungen gesehen
werden oder aber eine Verdichtung von Ansätzen aus eben jener
Vergangenheit.
Das Vergessen spielt bei Kunderas Ausführungen eine große Rolle. Er ist
sich
dessen bewusst, dass ein Roman bald in Vergessenheit gerät und nur
bestimmte
Stellen in Erinnerung bleiben. Was Patrick
Süskind in eine fantastische
Geschichte verpackt hat, in der es darum geht, dass ein Leser sich an
überhaupt
kein Buch mehr so richtig erinnern kann ("Amnesie in litteris"),
beschreibt
Kundera in Worten, die das Gedächtnis nicht dauerhaft besiedeln mögen.
Er gibt
Gedichten eine höhere "Halbwertszeit", weil sie auswendig gelernt und
rezitiert werden können, während das bei Romanen ja nicht möglich sei.
Der
Romanautor wisse ganz genau, wie schnell seine Leser das Geschriebene
vergessen
würden. Was jedoch nicht die Möglichkeit ausschließe, einen Roman für
die
"Ewigkeit" zu schreiben.
Die Essays setzen sich in erster Linie mit zwei Sujets auseinander: Mit
Romanen,
Romantechniken und Autoren (ähnlich, nur ausführlicher als in "Die Kunst
des
Romans") einerseits, und mit Geschichte des Romans im Kontext mit der
Geschichte Europas andererseits. Autobiografisches liest sich immer
wieder in
kleinen Einschüben; ansonsten ist die Auseinandersetzung des Autors mit
den
zwei Hauptthemen sozusagen jene Konstante, in der er sich selbst
reflektiert.
Der Leser macht aus den Romanen etwas ganz Eigenes, und wenn einmal ein
paar Jahre
verstrichen sind und der Roman "vergessen" ist, hat er überhaupt eine
völlig
neue Dynamik entwickelt. Er hat sich in das Leben des Lesers
eingeschlichen und
sich mit der Zeit mit ihm gemeinsam verändert. Ein Roman ist ja ohnehin
nur
eine Spiegelung des Lebens, weil die realen Erinnerungen mit der Zeit
die gleiche
Eigendynamik entwickeln, welche bei der Reflexion auf Gelesenes
auftritt. Eine
Erinnerung - schreibt Kundera - wird nie der erlebten Realität
gleichkommen, sondern sie höchstens "verklären".
Den weitesten Raum der Betrachtung verdient Cervantes. Sowohl was die
Romantechnik, als auch die Eigenheiten, Ausformungen, kompositorischen
Qualitäten
und viele andere Aspekte des "Don
Quijote" betrifft, lässt sich der Autor
nicht lumpen, darüber ausgiebig zu reflektieren.
Gerade die fiktive, bewusst als "Inszenierung" zu beschreibende Szenerie
fasziniert Kundera.
Recht begeistert ist er auch von Kafka,
insbesondere vom "Prozeß". Die
Vorwegnahme des bürokratischen Wahnsinns macht Kafka freilich zu einem
besonderen Autor. Allerdings wäre es einseitig, nur diesen Aspekt in
Augenschein zu nehmen. Kundera schreibt von der "Unwahrscheinlichkeit"
der
Ereignisse, und
verfährt ähnlich mit "Der Idiot" von
Dostojewski. Da
passieren Dinge, die möglicherweise nur als "Witz" gedacht waren und
sich
dann mit der Zeit immer mehr ausbreiteten. Theorien, mit denen der
Rezensent
nichts anzufangen weiß. Insbesondere dann, wenn Kundera auch noch meint,
Kafka
wäre, hätte er nicht Deutsch geschrieben, eher unbeachtet geblieben, und
ohne
den "berühmten Anfang" des "Prozesses" hätte dieses Buch nicht den
Erfolg verbucht, den der Autor nicht erleben durfte.
Am Ende des "Vorhangs" schreibt Kundera: "Die Geschichte der Kunst
ist
vergänglich. Das Geplapper der Kunst ist ewig." Leider
plappert er nicht wenig und versucht, allzu viele Ingredienzien in
knappstem
Buchstabenraum zu stopfen. Die Geschichte Europas bzw. Zentraleuropas
wird auf
eine "neue" Art und Weise interpretiert.
Flaubert bekommt recht viel Fett
weg. Musil und Broch werden besonders gelobt.
"Der Vorhang" ist ein Synonym für die "Bühne des Lebens" oder aber des
Romans. Je nach Perspektive. Mancher Autor
hat den Vorhang gelüftet und Einblicke in die Selbstreflexion über das
Schreiben ermöglicht (auch Kundera selbst). Über manche Autoren kann
diesbezüglich
nur gerätselt werden.
Besonders enttäuschend ist die Tatsache, dass Kundera zwar über allerlei
Autoren etwas
zu berichten weiß (bspw. Broch,
Hašek
und Tolstoi werden recht positiv
besprochen, andere wie Flaubert werden eher kritisch betrachtet), aber
keine
einzige Autorin erwähnt. "Die Kunst des Romans" findet sozusagen ohne
Frauen statt. Der vierte Teil heißt in diesem Sinn: "Was ist ein
Romancier?" Die Beschäftigung mit Romanen hat Kundera keinen
einzigen
Frauennamen entlockt. Er schreibt nur lapidar von dem Sprüchlein, das
Flaubert
einmal gesagt haben soll: "Madame Bovary, das bin ich."
So positiv einzelne Aspekte dieser Essays auch sein mögen, (etwa die
Abhandlungen über Kafka und Dostojewski mit den beschriebenen
Abweichungen), so
halbgar erscheinen andere Aussagen. Wie allgemein mittlerweile bekannt
sein dürfte,
lesen Frauen mehr als Männer, und dies sollte auch Kundera wissen.
Vielleicht
ist es ihm ja gar nicht aufgefallen, dass seine "Literaturgeschichte im
europäischen
Kontext" ohne Frauen stattfand und stattfindet.
Virginia
Woolf, Emily Brontë
oder Sylvia Plath werden nicht einmal als Randfiguren erwähnt. Eine
Erweiterung
der "Kunst des Romans" um beispielgebende Romanautorinnen sollte
eigentlich
in einem dritten Teil folgen.
(Jürgen Heimlich)
Milan Kundera: "Der Vorhang. Essays"
Aus dem Französischen von Uli Aumüller.
Fischer TB, 2015. 208 Seiten.
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Milan Kundera wurde am 1.
April
1929
in
Brünn geboren.
Sein Vater, der Rektor der Musik-Hochschule in Brünn, war
Janácek-Schüler.
Bereits
als Gymnasiast schrieb Kundera seine ersten Gedichte. Als
Achtzehnjähriger
trat er der Kommunistischen Partei bei. 1953 Veröffentlichung des ersten
Gedichtband "Der Mensch ist ein weiter Garten". Seit Mitte der
1950er-Jahre
beteiligte er sich aktiv am literarischen Leben des Landes als Dichter,
Essayist,
Übersetzer, Theaterautor und schließlich als Prosaautor. 1958 Abschluss
an der
Prager Filmhochschule; bis 1968 Assistent und Dozent an der Prager
Filmhochschule und redaktionelles Mitglied bei den
Literaturzeitschriften "Literarni
noviny" und "Listy".
1968 Entlassung aus der Hochschule nach dem Einmarsch der Sowjets am 21.
August
1968 und Publikationsverbot. Entfernung seiner Bücher aus allen
öffentlichen
Bibliotheken. 1975 Emigration nach Frankreich; Gastprofessor an der
Universität
Rennes. 1979 Entzug der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft als
Reaktion
auf das Buch "Vom
Lachen und Vergessen".
Kundera erhielt im Jahr 1980 die französische Staatsbürgerschaft.
Milan Kundera starb am 11. Juli 2023 in Paris.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Abschiedswalzer"
Dies ist wohl Kunderas bösester und zugleich sein amüsantester Roman. In
ihm
entwirft er eine wunderbare Typologie aller in Ehe- und Liebesdramen
auftretenden Personen, und der Leser muss sich in acht nehmen, um nicht
beim
Klang der immer rascher werdenden Walzermelodien unversehens selbst in
den
Strudel der Ereignisse zu geraten. (Fischer)
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"Die unerträgliche
Leichtigkeit des Seins"
Mit Tomas und Teresa hat Kundera eines der glaubhaftesten Liebespaare
der
modernen Literatur geschaffen. An ihnen und ihrem Schicksal werden die
Ungereimtheiten Europas bloßgestellt; an ihnen messen sich die Begriffe
"Exil"
und "Freiheit" und was Ideologie für den Einzelnen bedeutet. Dem
Roman, mit dem Kundera international berühmt wurde, folgte eine
vielbeachtete
Verfilmung.
zur
Rezension
...
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"Die Unwissenheit"
Irena hatte immer das Gefühl, sie könne über ihr Leben nicht selbst
entscheiden. Seit sie Prag 1968 verlassen hat, lebt sie in Paris und
fühlt sich
weder hier noch dort zu Hause. Doch eines Tages trifft Irena einen Mann,
den sie
zu kennen glaubt. War er es nicht, mit dem damals, vor vielen Jahren,
eine
Liebesgeschichte begann? Plötzlich scheint es möglich, die Erfahrungen,
die
Erinnerungen miteinander zu teilen und ein neues, eigenes Leben zu
beginnen ...
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"Jacques und sein Herr"
Eine Hommage an Denis
Diderot: Kundera hat dessen Roman "Jacques
der Fatalist" in eine
neue, funkensprühende Variation gebracht. Die Dialoge des Dieners
Jacques und
seines Herren, die beständigen Versuche, die Geschichte von Jacques'
erster
erotischer Affäre zu erzählen, der immer von neuem ansetzende Kreis aus
Verliebtheit und Enttäuschung: all das ist ein Feuerwerk von Witz und
Tiefsinn.
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"Das Fest der Bedeutungslosigkeit" zur Rezension ...
"Die Unsterblichkeit" zur Rezension ...
"Die Identität" zur Rezension ...
Leseprobe:
In den Romanen Dostojewskijs hört die Uhr nicht auf, die Stunde
anzugeben:
"Es
war gegen neun Uhr morgens" lautet der erste Satz von Der Idiot; in
diesem
Augenblick treffen durch reinen Zufall (jawohl, der Roman beginnt mit
einem
Riesenzufall!) drei Personen in einem Zugabteil aufeinander, die sich
noch nie
gesehen haben: Myschkin, Rogoshin, Lebedew; im Laufe ihres Gesprächs
taucht
bald Nastassja Filippowna auf, die Heldin des Romans. Um elf Uhr
klingelt
Myschkin bei General Jepantschin, um halb eins isst er mit der Frau des
Generals
und ihren drei Töchtern zu Mittag; während ihres Gesprächs taucht
Nastassja
Filippowna wieder auf: wir erfahren, dass ein gewisser Totskij, der sie
ausgehalten hat, sie um jeden Preis mit Jepantschins Sekretär Ganja
verheiraten
will und dass sie am selben Abend, auf dem Fest zu ihrem
fünfundzwanzigsten
Geburtstag, ihre Entscheidung verkünden soll. Nach dem Essen nimmt Ganja
Myschkin mit in die Wohnung seiner Familie, und dort erscheint, obwohl
niemand
sie erwartet, Nastassja Filippowna und kurz darauf, ebenso
unvorhergesehen (jede
Szene bei Dostojewskij ist von unvorhergesehenen Ankünften rhythmisch
gestaltet), der betrunkene Rogoshin in Gesellschaft anderer
Trunkenbolde. Der
Abend bei Nastassja verläuft erregt: Totskij wartet ungeduldig auf die
Ankündigung
der Heirat, Myschkin und Rogoshin erklären beide Nastassja ihre Liebe,
und
Rogoshin gibt ihr außerdem ein Paket mit hunderttausend Rubel, das sie
in den
Kamin wirft. Das Fest geht spätnachts zu Ende und mit ihm der erste der
vier
Teile des Romans: auf gut 250 Seiten fünfzehn Stunden eines Tages und
nicht
mehr als vier Schauplätze: der Zug, Jepantschins Haus, Ganjas Wohnung,
Nastassjas Wohnung.
Bis dahin konnte man eine derartige Konzentration von Ereignissen in so
kurzer
Zeit und so begrenztem Raum nur im Theater sehen. Hinter einer extremen
Dramatisierung der Handlungen (Ganja ohrfeigt Myschkin, Warja spuckt
Ganja ins
Gesicht, Rogoshin und Myschkin machen derselben Frau im selben Moment
eine
Liebeserklärung) verschwindet alles, was zum Alltagsleben gehört. So ist
die
Poetik des Romans bei Scott, bei Balzac, bei Dostojewskij; der Romancier
will
alles in Szenen sagen; doch die Beschreibung einer Szene nimmt zu viel
Platz
ein; die Notwendigkeit, die Spannung aufrechtzuerhalten, erfordert eine
äußerste
Handlungsverdichtung; daher das Paradox: der Romancier will die ganze
Wahrscheinlichkeit der Prosa des Lebens bewahren, doch die Szene wird so
ereignisreich, so übervoll von Zufällen, dass sie sowohl ihren
prosaischen
Charakter wie ihre Wahrscheinlichkeit einbüßt.
Dennoch sehe ich in dieser Theatralisierung der Szene keine bloße
technische
Notwendigkeit und noch weniger einen Fehler. Diese Anhäufung von
Ereignissen
mit allem, was sie an Außergewöhnlichem und fast Unglaubhaftem an sich
haben
mag, ist zuallererst einmal faszinierend! Wenn sie uns in unserem
eigenen Leben
zustößt - wer könnte es leugnen -, entzückt sie uns! Gefällt uns! Wird
unvergesslich! Die Szenen bei Balzac oder
Dostojewskij (dem letzten großen
Balzacianer der Romanform) spiegeln eine ganz besondere Schönheit, eine
überaus
seltene, aber doch wirkliche Schönheit, die jeder in seinem eigenen
Leben
gekannt (oder zumindest gestreift) hat.
Das freizügige Böhmen meiner Jugend taucht plötzlich auf: meine Freunde
verkündeten,
es gebe keine schönere Erfahrung für einen Mann, als an ein und
demselben Tag
hintereinander drei Frauen zu haben. Nicht als mechanisches Ergebnis
einer
Sexparty, sondern als individuelles Abenteuer aufgrund eines
unverhofften
Zusammentreffens von Gelegenheiten, Überraschungen, Blitzverführungen.
Dieser
extrem seltene, einem Traum nahekommende "Tag der drei Frauen" hatte
einen betörenden
Reiz, der, wie ich heute erkenne, nicht in irgendeiner sportlichen
sexuellen
Leistung bestand, sondern in der epischen Schönheit einer schnellen
Folge von
Begegnungen, bei denen jede Frau, vor dem Hintergrund ihrer Vorgängerin,
noch
einzigartiger erschien und ihre drei Körper drei langen Tönen glichen,
jeder
auf einem anderen Instrument gespielt, zu einem einzigen Akkord vereint.
Das war
eine ganz besondere Schönheit, die Schönheit einer plötzlichen
Verdichtung
des Lebens.
Die Macht des Nichtigen
1879 nahm Flaubert für die zweite Auflage von Erziehung der Gefühle (die
erste
war 1869 erschienen) Veränderungen in der Anordnung der Absätze vor: nie
teilte er einen in mehrere, sondern er verband sie oft zu längeren
Abschnitten.
Das scheint mir seine tiefe ästhetische Absicht zu verraten: den Roman
enttheatralisieren; ihn entdramatisieren ("entbalzacisieren"); eine
Handlung,
eine Tat, eine Replik in ein größeres Ganzes einschließen; sie im
fließenden
Wasser des Alltäglichen auflösen.
Das Alltägliche. Das ist nicht nur Langeweile, Nichtigkeit, Monotonie,
Mittelmaß;
es ist auch Schönheit. Zum Beispiel der Zauber von Atmosphären; jeder
kennt
ihn aus seinem eigenen Leben: Musik, die man leise aus der
Nachbarwohnung hört;
der Wind, der am Fenster rüttelt; die eintönige Stimme eines Professors,
der
einer Studentin mit Liebeskummer zuhört, ohne sie aufzunehmen; diese
nichtigen
Umstände drücken einem sehr persönlichen Ereignis einen Stempel
unnachahmlicher Einzigartigkeit auf, das dadurch ein wichtiges Erlebnis
und
unvergesslich wird.
Doch Flaubert ist in seiner Erforschung der täglichen Banalität noch
weiter
gegangen. Es ist elf Uhr morgens, Emma kommt zum Rendezvous in die
Kathedrale
und reicht Léon, ihrem bis dahin platonischen Liebhaber, den Brief, in
dem sie
ihm mitteilt, dass sie sich nicht mehr mit ihm treffen will. Dann geht
sie
beiseite, kniet nieder und verrichtet ein Gebet; als sie sich erhebt,
ist ein Führer
da und schlägt ihnen eine Besichtigung der Kirche vor. Um das Rendezvous
zu
vereiteln, stimmt Emma zu, und das Paar ist gezwungen, sich vor
Gemälden, vor
Heiligenfiguren aufzubauen, den Kopf zu einem Deckenfresko zu heben und
sich die
Erläuterungen des Führers anzuhören, die Flaubert in ihrer ganzen
Stupidität
und Länge wiedergibt. Wütend bricht Léon, der es nicht mehr aushalten
kann,
die Besichtigung ab, zieht Emma auf den Kirchenvorplatz hinaus, ruft
eine
Droschke, und die berühmte Szene beginnt, von der wir nichts sehen und
hören,
außer hin und wieder eine Männerstimme aus dem Innern der Droschke, die
dem
Kutscher befiehlt, in eine immer neue Richtung zu fahren, damit die
Fahrt
weitergeht und die Liebesséance nie endet.
Eine der berühmtesten erotischen Szenen wurde durch etwas vollkommen
Banales
ausgelöst: einen harmlosen Langweiler und die Ausdauer seines
Geschwätzes. Im
Theater kann eine große Handlung nur aus einer anderen großen Handlung
entstehen. Einzig der Roman hat es verstanden, die ungeheure,
geheimnisvolle
Macht des Nichtigen zu entdecken.
Die Schönheit eines Todes
Warum bringt Anna
Karenina sich um? Scheinbar ist alles klar: seit Jahren drehen
sich die Leute aus ihrer Welt nach ihr um; sie leidet darunter, von
ihrem Kind
Sergej getrennt zu sein; auch wenn Wronskij sie immer noch liebt, bangt
sie um
seine Liebe; sie ist ihrer müde, von ihr übererregt, krankhaft (und
unberechtigt) eifersüchtig; sie fühlt sich in der Falle. Ja, all das ist
klar;
aber ist man zum Selbstmord verurteilt, wenn man in einer Falle sitzt?
So viele
Menschen gewöhnen sich daran, in einer Falle zu leben! Auch wenn man das
Ausmaß
ihrer Traurigkeit versteht, bleibt Annas Selbstmord ein Rätsel.
Als
Ödipus die furchtbare Wahrheit über seine Identität erfährt, als
er die
erhängte Jokaste erblickt, sticht er sich die Augen aus; seit seiner
Geburt hat
ihn eine kausale Notwendigkeit mit mathematischer Sicherheit zu diesem
tragischen Ausgang hingeführt. Anna jedoch denkt ohne jedes
außergewöhnliche
Ereignis im Siebten Teil des Romans ein erstes Mal an ihren möglichen
Tod; das
geschieht am Freitag, zwei Tage vor ihrem Selbstmord: gequält von einem
vorangegangenen Streit mit Wronskij, erinnert sie sich auf einmal an den
Satz,
den sie in ihrer Erregung einige Zeit nach ihrer Niederkunft gesagt hat:
"Warum
bin ich nicht tot?", und sie beschäftigt sich lange damit. (Wohlgemerkt:
nicht
sie kommt auf der Suche nach einem Ausweg aus der Falle logisch auf die
Idee des
Todes; diese wird ihr von einer Erinnerung leise eingeflüstert.)
Am nächsten Tag, dem Sonnabend, denkt sie ein zweites Mal an den Tod:
sie sagt
sich, dass Selbstmord "das einzige Mittel" wäre, "Wronskij zu bestrafen,
seine Liebe zurückzuerobern" (Selbstmord also nicht als Ausweg aus einer
Falle, sondern als Liebesrache); um schlafen zu können, nimmt sie ein
Schlafmittel und verliert sich in einer sentimentalen Träumerei über
ihren
Tod; sie stellt sich Wronskijs Qual vor, wenn er sich über ihre Leiche
beugt;
dann, als ihr klar wird, dass ihr Tod nur eine Fantasie ist, empfindet
sie eine
ungeheure Lebensfreude: "Nein, nein, alles eher als der Tod! Ich liebe
ihn, er
liebt mich auch, wir haben schon ähnliche Szenen erlebt, und alles ist
wieder
gut geworden."
Der Tag darauf, der Sonntag, ist ihr Todestag. Morgens streiten sie sich
wieder,
und kaum ist Wronskij in die Villa seiner Mutter in der Nähe von Moskau
gefahren, schickt sie ihm eine Nachricht: "Ich hatte unrecht; komm nach
Hause,
wir müssen uns aussprechen. Um Gottes willen, komm zurück, ich habe
Angst."
Dann beschließt sie ihre Schwägerin Dolly zu besuchen, um ihr ihren
Kummer
anzuvertrauen. Dann setzt sie sich in ihre bereitstehende Kutsche und
lässt
ihren Gedanken freien Lauf. Es ist kein logisches Nachdenken, es ist
eine
unkontrollierbare Tätigkeit des Gehirns, bei der alles
durcheinandergeht,
bruchstückhafte Überlegungen, Beobachtungen, Erinnerungen. Die fahrende
Kutsche ist ein idealer Ort für so einen stummen Monolog, denn die
draußen
vorbeiziehende Außenwelt nährt unentwegt ihre Gedanken: "Büro und
Geschäfte.
Zahnarzt. Ja, ich werde Dolly alles beichten;... es wird hart, ihr alles
zu
sagen, aber ich werde es tun."
(Stendhal
schneidet den Ton gern mitten in einer Szene ab: wir hören den Dialog
nicht mehr und folgen den heimlichen Gedanken einer Figur; dabei handelt
es sich
immer um eine sehr logische und komprimierte Überlegung, mit der
Stendhal uns
die Strategie seines Helden verrät, der dabei ist, die Situation
abzuschätzen
und über sein Verhalten zu entscheiden. Annas stummer Monolog ist
überhaupt
nicht logisch, er ist kein Nachdenken, er ist all das, was ihr in einem
bestimmten Moment durch den Kopf strömt. Damit nimmt Tolstoj das vorweg,
was
Joyce fünfzig Jahre später viel systematischer in seinem Ulysses
einsetzen
wird und was innerer Monolog oder stream of consciousness genannt werden
wird.
Tolstoj und Joyce
wurden von der gleichen Obsession umgetrieben: das zu
erfassen, was in einem gegenwärtigen Augenblick im Kopf eines Menschen
geschieht, der in der Sekunde darauf für immer fortgehen wird. Aber es
gibt
einen Unterschied: mit seinem inneren Monolog erforscht Tolstoj nicht,
wie später
Joyce, einen gewöhnlichen Tag, sondern im Gegenteil die entscheidenden
Augenblicke im Leben seiner Heldin. Und das ist viel schwieriger, denn
je
dramatischer, außergewöhnlicher, schlimmer eine Situation ist, desto
stärker
neigt der Erzählende dazu, ihren wirklichen Charakter auszulöschen, ihre
unlogische Prosa zu vergessen und durch die unbarmherzige, vereinfachte
Logik
der Tragödie zu ersetzen. Die tolstojsche Erforschung der Prosa eines
Selbstmords ist also eine Großtat, eine "Entdeckung", die in der
Geschichte
des Romans nicht ihresgleichen hat und nie haben wird.)
Als Anna bei Dolly ankommt, ist sie unfähig, ihr etwas zu sagen. Sie
verlässt
sie bald, steigt wieder in die Kutsche und fährt zurück; es folgt der
zweite
innere Monolog: Straßenszenen, Beobachtungen, Assoziationen. Zu Hause
findet
sie Wronskijs Telegramm vor, der ihr mitteilt, dass er bei seiner Mutter
auf dem
Land ist und nicht vor zehn Uhr abends zurückkommt. Auf ihren
gefühlvollen
Schrei vom Morgen ("Um Gottes willen, komm zurück, ich habe Angst!")
erwartete sie eine ebenso gefühlvolle Antwort und ist, da sie nicht
weiß, dass
Wronskij ihre Nachricht nicht bekommen hat, tief gekränkt; sie
beschließt, mit
dem Zug zu ihm zu fahren. Wieder sitzt sie in der Kutsche, wo es zum
dritten
inneren Monolog kommt: Straßenszenen, eine Bettlerin, die ein Kind hält,
"warum
bildet sie sich ein, Mitleid zu erregen? Sind wir nicht alle in diese
Welt
geworfen, um uns gegenseitig zu hassen und zu quälen?... Ach, Schüler,
die
sich amüsieren... Mein kleiner Sergej!..."
Sie steigt aus der Kutsche und besteigt den Zug; da betritt eine neue
Kraft die
Bühne: die Hässlichkeit; vom Abteilfenster aus sieht sie eine
"unförmige"
Frau über den Bahnsteig laufen; sie "zog sie in ihrer Fantasie aus, um
sich
über ihre Hässlichkeit zu entsetzen..." Der Dame folgt ein kleines
Mädchen,
das "affektiert lachte... fratzenhaft und eingebildet". Ein
"schmutziger,
hässlicher
Mann mit einer Mütze" taucht auf. Schließlich nimmt ein Paar ihr
gegenüber
Platz; "sie sind ihr zuwider"; der Ehemann erzählt "seiner Frau
Albernheiten".
Jede rationale Überlegung ist aus ihrem Kopf gewichen; ihre ästhetische
Wahrnehmung wird überempfindlich; eine halbe Stunde bevor sie selbst die
Welt
verlässt, sieht sie die Schönheit aus ihr verschwinden.
Sie steigt aus. Am Bahnhof wird ihr eine neue Nachricht von Wronskij
überreicht,
in der er seine Rückkehr um zehn Uhr bestätigt. Sie geht den Bahnsteig
entlang, ihre Sinne werden von allen Seiten von Vulgarität,
Scheußlichkeit,
Mittelmäßigkeit attackiert. Ein Güterzug fährt ein. Plötzlich "erinnerte
sie sich an den Mann, der am Tag ihrer ersten Begegnung mit Wronskij
überfahren
worden war, und sie begriff, was sie zu tun hatte". Und erst in diesem
Augenblick entscheidet sie sich zu sterben.
("Der Mann, der überfahren worden war", an den sie sich erinnert, war
ein
Eisenbahner, der im selben Augenblick, als sie Wronskij zum ersten Mal
in ihrem
Leben sah, unter einen Zug geraten war. Was bedeutet diese Symmetrie,
diese
Einrahmung ihrer ganzen Liebesgeschichte vom Motiv eines zweifachen
Todes im
Bahnhof? Ist es eine poetische Manipulation Tolstojs? Seine Art, mit
Symbolen zu
spielen?
Rekapitulieren wir die Situation: Anna ist zum Bahnhof gefahren, um
Wronskij
wiederzusehen und nicht um sich umzubringen; auf dem Bahnsteig wird sie
dann plötzlich
von einer Erinnerung überfallen und von der unerwarteten Gelegenheit
verlockt,
ihrer Liebesgeschichte eine vollendete, schöne Form zu geben; Anfang und
Ende
durch den gleichen Schauplatz Bahnhof und das gleiche Motiv des Todes
unter den
Rädern miteinander zu verbinden; denn ohne es zu wissen, lebt der Mensch
im
Banne der Schönheit, und Anna ist, von der Hässlichkeit des Seins
geplagt, dafür
um so empfänglicher.)
Sie geht ein paar Stufen hinunter und steht vor den Gleisen. Der
Güterzug nähert
sich. "Ein Gefühl ergriff sie, das wie früher war, wenn sie beim Baden
dazu
ansetzte, ins Wasser zu springen..."
(Ein erstaunlicher Satz! In einer einzigen Sekunde, der letzten ihres
Lebens,
verbindet sich der äußerste Ernst mit einer netten, gewöhnlichen,
leichten
Erinnerung! Selbst im aufwühlenden Moment ihres Todes ist Anna weit weg
vom
tragischen Weg des Sophokles. Sie weicht nicht vom geheimnisvollen Weg
der Prosa
ab, wo Hässlichkeit und Schönheit nebeneinanderliegen, wo das
Vernünftige dem
Unlogischen weicht und ein
Rätsel ein Rätsel bleibt.)
"Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und stürzte mit vorgestreckten
Händen
unter den Waggon."