Wojciech Kuczok: "Dreckskerl"

Eine Antibiografie


Bis die Apokalypse ausbricht passiert allerlei. Mit messerscharfen Worten wird eine Geschichte erzählt, deren Ende so nicht erwartet werden mag. Ein Haus steht irgendwo in Schlesien, und die Bewohner sind alles andere als positive Identifikationsfiguren. Außerhalb dieses Hauses existiert ein Lebenskreislauf, von dem der Erzähler nur bei einem erzwungenen "Kuraufenthalt" etwas mitbekommt. Ansonsten beschäftigt er sich mit seinen Großeltern, Onkeln und Tanten, Schulkameraden, Vater und Mutter.

Die einzelnen Lebensgeschichten entfalten sich nach und nach. Allesamt handelt es sich um Verlierer, die an einem System gescheitert sind, dessen Auswüchse nicht einmal zwischen den Zeilen anklingen. Grobschlächtig kann eine kommunistische Akzentuierung ausgemacht werden, eine Zweiklassengesellschaft konstruiert sein. Es gibt aber keine Hinweise auf die Prägung der gescheiterten Existenzen. Der Vater schlägt seinen Sohn schon als Säugling und setzt diese Prügelorgien fort, bis dieser einen Fluchtpunkt gefunden hat. Zwischendurch gibt es verbale Exzesse zwischen Vater und Mutter, die Onkel und Tante auf merkwürdige Weise einbeziehen.

Was wie eine Tragikomödie gelesen werden kann, erweist sich durch die Hintertür als scharfe Kritik am System, obzwar jegliche Angriffsflächen für die Kritisierten fehlen. Das Ausbleiben spezifischer Reibungspunkte manifestiert sich in der ausufernden Wut des geschlagenen Sohnes, der für seinen Vater nur Spott und Hohn übrig hat. Dafür ist eine Sympathie für den Großvater und den Onkel nicht als Vorspiegelung falscher Tatsachen zu verstehen. Der Großvater verstand sich als Künstler, der sein existenzielles Scheitern jedoch nicht auf seinen Sohn in Form von Prügelstrafen projizierte. Dies vollzieht der ebenfalls zum hoffnungslosen Künstler degradierte Vater, der als Dreckskerl genau jenes Attribut seinem Sohn auferlegen will. Die Mutter spricht aus, was der Sohn denkt. Der Vater ist ein Dreckskerl, ein Ungeheuer in Menschengestalt. In Gedanken bringt der Sohn den Vater immer wieder um, wünscht sich dessen Tod.

Komisch, ja grotesk ist das einzige sexuelle Abenteuer des Onkels, das fulminant dargestellt ist. Der Onkel lebt mit seiner Schwester als Untermieter im Haus, und wehe, wenn er losgelassen und eine Frau mit auf sein Zimmer bringt. Seine Schwester betet Rosenkränze und fürchtet um die himmlische Gnade für den Sünder, der sich vor ihr abschließt. Doch es bleibt bei einem einmaligen lustvollen Erlebnis für den Mann, dessen Existenz wie in einem Kokon eingeschlossen ist.

Die Geschichte von Schlesien wird nicht erzählt. Der Autor hätte es tun können und hat es doch nicht getan. Er verhält sich scheinbar neutral, während außerhalb des Textes eine Welt generiert wird, die bis heute schwerwiegende Folgen zu tragen hat. Im Haus irgendwo in Schlesien wohnen mitten im russgrauen, schlesischen Bergbaugebiet Generationen von verlorenen Seelen, die ihren existenziellen Ekel nur einander an die Schädel werfen können. Ausweg aus dieser Situation gibt es keinen. Es bleibt nur die Flucht in eine Zukunft, die vielleicht besser sein mag. Der Sohn hat sich aufgemacht, dem Irrsinn zu entgehen.

Die in Polen lebenden Schlesier fühlen sich nicht als Polen und nicht als Deutsche. Sie sind Schlesier, denen ihre eigene Geschichte weitgehend nicht bekannt ist. Insbesondere die jüngeren Generationen haben fast keine Ahnung, wie es zu dieser Minderbewertung ihrer Existenz kommen konnte.
Das vielleicht wichtigste Buch über die Geschichte von Schlesien hat Renata Schumann geschrieben (Zwischen den Mahlsteinen der Geschichte. Oberschlesien im Zeitenwandel). Wojciech Kuczok hat einen ungewöhnlichen Weg gewählt, um die Geschichte eines Volkes zu erzählen, das in Polen nach wie vor keinen leichten Stand hat und diskriminiert wird. Ein Kompliment muss den Übersetzern gemacht werden. Die Sprache ist geschliffen und ähnelt an einigen Stellen der Sprachkunst von Franzobel, als dieser noch Wert auf deren Klang und Aussagekraft legte.

Die Originalausgabe erschien bereits im Jahr 2003. Somit sei den Übersetzern und dem Verlag gedankt, dem interessierten Lesepublikum ein kleines Kunstwerk beschert zu haben. Möglicherweise regt es manchen Leser dazu an, eine konkrete Auseinandersetzung mit der schlesischen Geschichte anzustreben. Dies wäre sicher im Sinn des Autors.

(Jürgen Heimlich; 03/2007)


Wojciech Kuczok: "Dreckskerl. Eine Antibiografie"
Übersetzt von Gabriele Leupold und Dorota Stroinska.
Suhrkamp, 2007. 174 Seiten.
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Wojciech Kuczok, 1972 geboren, Lyriker, Prosaschriftsteller, Filmkritiker. Debütierte 1999 mit Erzählungen. Für seinen Roman "Gnój" ("Miststück") erhielt er 2004 den "NIKE", den wichtigsten polnischen Literaturpreis. Wojciech Kuczok lebt in Krakau.

Weitere Bücher des Autors:

"Im Kreis der Gespenster. Erzählungen"

Unter der beeindruckenden Zahl guter junger Autoren in Polen gilt Wojciech Kuczok als herausragender Stilist. Mit seinem Gespür für die feinsten Risse, in denen sich der Fassadensturz eines ganzen Lebens ankündigt, scheint er prädestiniert für die elementaren Themen: Liebe, Sexualität, Tod. "Im Kreis der Gespenster", sein Prosaband aus fünf langen Erzählungen und vier knappen "Interludien", die mit vier Préludes aus op. 28 von Chopin betitelt sind, handelt von Menschen an der Schwelle. Der Geschäftsmann, der auf einer Bank im Park, von einem Bettler grotesk belästigt, seine Homosexualität entdeckt; der Psychoanalytiker, der sich der geladenen Waffe eines verrückten Patienten gegenübersieht; die Witwe, die eines Tages das Grab ihres Mannes nicht mehr findet - alle kippen sie in einem Augenblick gleißender Erkenntnis aus ihrem Alltag heraus und gehen sich verloren. Wie die junge Frau in der Titelgeschichte, die offenbar schon von der anderen Seite der Wirklichkeit her auf ein Liebesdelirium zurückschaut.
Kuczok versteht es meisterhaft, in die ruhige realistische Erzählung das Unfassbare einbrechen zu lassen - auch darin, nicht nur in ihrer Poesie und Melancholie, sind seine geschliffenen Prosastücke der nervösen Klaviermusik des polnischen Romantikers verwandt. (Suhrkamp)
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