Brigitte Kronauer: "Errötende Mörder"


Jobst Böhme, 41- jähriger Besitzer eines Büroartikelgeschäftes in Norddeutschland ist in eine Lebenskrise geraten. Er hat sich von seiner jüngeren Frau Ellen scheiden lassen, weil er sich in die 23-jährige Natalja aus St. Petersburg verliebt hat.

Als Jobst sich einem Schriftsteller, dem er einen Computer verkauft und eingerichtet hat, während dieser Verkaufsbeziehung öffnet und ihm von seinem Gefühl des Ausgebranntseins erzählt, rät dieser Schriftsteller ihm zu einem langen Wochenende in den Schweizer Bergen. Er stellt Jobst sein "Haus zur Seewiese" zur Verfügung. Seine Einladung aber verbindet er mit der Bitte, Jobst möge doch während dieser erholsamen Tage in den Bergen die Manuskripte von drei unveröffentlichten Kurzromanen lesen. Jobst geht sehr schnell auf diesen Vorschlag ein und sitzt kurz darauf im Zug in die Schweiz. Den Laden hat er in der Zwischenzeit Natalja anvertraut. Denn "vor allem wegen Natalja wollte er unbedingt wieder ein Mann aus Fleisch und Blut werden, noch bevor sie mit dem riesigen Hohlraum, den er zur Zeit unter der Oberfläche namens Jobst Böhme verbarg, in Berührung käme."

Schon am ersten Morgen nach seiner Ankunft unternimmt Jobst eine Wanderung, die ihn in ein Tal hineinführt, und er nimmt gleich das erste Manuskript mit. Während einer Ruhepause auf einer Bank beginnt er zu lesen, und er, der wohl in der letzten Zeit wenig Muße zum ungestörten Lesen hätte, fällt geradezu in die Geschichte mit dem Titel "Der böse Wolfsen oder Das Ende der Demokratie" hinein.
Das Manuskript erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich nach dem Verschwinden seiner Freundin zunehmend in sich zurückzieht und sozial vereinsamt, wobei er sich in immer stärkere Paranoia versteigt, überzeugt davon ist, dass das Ende der Demokratie bevorstehe, und in manchen Augenblicken glaubt er, er selbst habe seine Freundin Dotte Wamser totgeschlagen.

Während sich Jobst noch fragt, ob der Mann nun ein Mörder ist oder nicht, begegnet er bei seiner Rückkehr ins "Haus zur Seewiese" einer kroatischen Putzfrau und macht sich mit ihr bekannt. Er verbringt eine ruhige Nacht und beschließt, am nächsten Tag noch tiefer in das Tal hineinzugehen. Während er die Schüsse aus den Flinten der Jäger wahrnimmt, die die Jagdsaison eröffnen, liest er auf einer anderen Bank als am Tag zuvor das zweite Manuskript mit dem Titel "Errötende Mörder", eine etwas abstruse Geschichte über die Wahrnehmungen eines gewissen Sven Strör.

Nach der Lektüre dieses Manuskriptes verbeißt sich Jobst Böhme in den etwas paranoiden Gedanken, der Schriftsteller habe ihm nur deshalb zur der Erholungsreise geraten und ihm großzügig sein Haus zur Verfügung gestellt, damit er ungestört mit Jobsts Freundin Natalja vögeln könne.

Am dritten und letzten Tag seines Aufenthaltes hat sich Jobst den Aufstieg zur Alp Binoz vorgenommen, ein weiter Weg. Unterwegs begegnet ihm, wie schon an den beiden Tagen zuvor, ein seltsamer Wanderer. Er trägt kurze Hosen und hat ausziehbare Wanderstöcke aus Metall dabei. Jobst kann den Kerl nicht ausstehen, obwohl er kein Wort mit ihm gewechselt hat. Im Schatten der Hütte auf der Alp Binoz liest Jobst Böhme das letzte Manuskript, "Der Mann mit den Mundwinkeln", in dem eine Kirchenführerin namens Petronia über ihre seltsamen Erfahrungen mit einem Motorradfahrer berichtet.
Während Jobst liest, kehrt der Mann mit den Wanderstöcken zurück und verwickelt ihn in eine bedrohliche Situation an einem Felsvorsprung, aus der sich Jobst aber retten kann.

Heimgekommen, fragt sich Böhme, was "ihm nun die drei Ausflüge ins Tal und die drei Geschichten gebracht (haben)?Auch das wusste er nicht und scherte sich nicht darum."
Auch als er abends im Restaurant mit "Herr Wolfsen" angesprochen wird, denkt er sich nichts dabei. Denn schon längst ist er in die gelesenen Geschichten so verwickelt, dass er nicht mehr herauskommt.
Am nächsten Morgen, eigentlich müsste er abreisen, geht er ohne Gepäck zum Bahnhof, wo ihm eine "schwarze Schar von Urlaubern aus Antwerpen" auffällt, "alle mit Schläfenlocken, so bedeutsam ausstaffiert, auf den Zug wartend, in dem auch er, Jobst, wäre es weiter nach Plan gegangen, zu bedrängenden Häuslichkeiten, ja sicher, zu gewohnten Geschäften von äußerster Dringlichkeit, hätte heimreisen müssen."
Doch es geht nicht nach Plan; Jobst Böhme fährt nicht zurück.

In Brigitte Kronauers Roman werden laut Klappentext "Drei Tableaus (...) vor uns aufgeschlagen, reich an Anspielungen auf unsere unmittelbarste Gegenwart. Drei Helden, die einen heiklen Punkt in ihrer Vergangenheit haben, ein seelisches Desaster. Sie erzählen vom Mann, von der Frau und vom sich zuspitzenden Verhältnis der Generationen. Niemand, der hier nicht an einem bestimmten Punkt seines Lebens dem Tod begegnete. So ist dieses Buch wie eine hell illuminierte Reise in die Dunkelheit."
Aus der Lektüre der Manuskripte wird für Kronauers Hauptperson schnell eine abenteuerliche Lesereise und eine Odyssee in die Innenwelten dreier Figuren, eine Slalomfahrt durch die Psyche der Zeitgenossen, die ihn selbst verändert zurücklässt.

Brigitte Kronauer versteht es meisterhaft, Zeit- und Wirklichkeitsebenen ineinanderfließen zu lassen und lässt Binnenerzählungen ihr Spiel treiben mit den Erzählinstanzen. Sie schreibt in einem wachen, sorgsamen und empfindlichen Stil, der den Leser sehr bald in seinen eigentümlichen Bann zieht.

(Winfried Stanzick; 10/2007)


Brigitte Kronauer: "Errötende Mörder"
Klett-Cotta, 2007. 333 Seiten.
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Brigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem "Fontane-Preis" der Stadt Berlin, mit dem "Heinrich-Böll-Preis", dem "Hubert-Fichte-Preis" der Stadt Hamburg und dem "Joseph-Breitbach-Preis" ausgezeichnet. 2004 erschien ihr von der Kritik gefeierter Roman "Verlangen nach Musik und Gebirge". 2005 wurde ihr der mit 40.000 Euro dotierte "Georg-Büchner-Preis" der Darmstädter Akademie verliehen ("Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den Georg-Büchner-Preis 2005 Brigitte Kronauer, der spielerisch sicheren Erzählerin, die ihren Sinn für das scheinbar Banale, für Komik, Erotik und Sarkasmus hellhörig und präzise auf alles Doppelbödige in Gefühlen und Gesten richtet und so zu einer Meisterin des Vexierspiels, der höheren Heiterkeit und des musikalischen Schreibens wird."):

"Verlangen nach Musik und Gebirge"
Sommer 2002. Die Erzählerin: sie kommt als Touristin, für ein Wochenende und eine Verabredung nur, und sie quartiert sich ein im "Malibu" nahe der Seepromenade von Oostende. Schnell hat sich ein kleiner Kreis gebildet, europäischen Zuschnitts, und man ist gewillt, die Zeit zu nutzen: de Rouckl, dauergekränkter Künstlertyp; Willaert, Antwerpener Parfümerist und undurchschaubarer Führer durch das belgische Städtchen; und Roy, der unglücklich Verliebte, der mit seiner Großmutter da ist.
Im Zentrum: die von ihrem Liebhaber begleitete Italienerin Sonja, eine hellblonde Schönheit, die "Schneeantilope". Bald sind wir mittendrin in Kabale und Liebe.
Dass die Welt nur als Begleitumstand einer Liebe zu ertragen ist, ist nur eine der Erkenntnisse dieses Romans. Ein Maskenball wird hier inszeniert, ein schnelldrehendes Schattenspiel zwischen den Geschlechtern vor dem Hintergrund zeitgenössischer Anblicke: Ferienburgen, Vergnügungs-Gigantomanie und Postkolonialismus. Das Wochenende führt die Gruppe in die Nachtcafés, das Ensor-Haus und zur Baustelle eines maritimen Luxusrestaurants. Wohl nie hat Brigitte Kronauer ihre Sprachmagie aufregender und raffinierter eingesetzt als hier. Von der Sehnsucht in allen und in allem handelt dieser große Roman, der uns mit tausend Verlockungen in seinen Bann zieht. (Klett-Cotta)
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Leseprobe:

"Pappkameraden!" Vor allem durfte er sich nichts anmerken lassen. Es war nicht schlimm, solange die anderen nichts witterten.

"Bis auf Natalja alles Pappkameraden. Und du, Böhme, du auch, du erst recht."

Er, Jobst Böhme, sah durch einen Spalt auf die Straße, die von seinem Geschäft aus leicht bergab zum Marktplatz führte. Seine Mutter hatte ihn vor bald einundvierzig Jahren unehelich in größter Verlegenheit zur Welt gebracht, als kleines Mädchen aber einstmals fröhlich in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs 'Soldat auf Urlaub' mit einem Stock als Gewehr über der Schulter und 'Heimkehr aus dem Krieg' mit demselben Stock als Krücke gespielt, alles ohne größere Unglücke. Ihr Vater war, wie dessen Bruder, in der Nähe von Stalingrad vermutlich erfroren, vergilbte Todesangst, Todesfälle, von denen die Eltern der beiden Söhne nichts erfahren hatten, da sie zuvor in den Bombardierungen des Ruhrgebiets um gekommen waren, verbrannt, erstickt oder von Steinen erschlagen. Man besaß darüber keine Information oder erinnerte sich nicht mehr.

Dem Urenkel dieser beiden, Jobst, gehörte im gut- und teilweise großbürgerlichen, etwas oberhalb des Stroms gelegenen Vorort einer norddeutschen Großstadt, in dem es seit einiger Zeit Mode oder gar Zwang geworden war, zu den Hochzeiten Feuerwerke zu veranstalten ("Feuerwerke am Fließband, es zischt und knallt das ganze Wochenende, sobald es dunkel wird. Die merken gar nicht, wie ordinär das ist", lachte Jobst im privaten Kreis und schickte das Wort "großkotzig" etwas leiser hinterher), ein florierendes, nicht unelegantes Geschäft für Büroartikel und Anverwandtes. Da er durch Erbschaft Besitzer des Hauses war, mußte er keine ruinösen Mieterhöhungen befürchten. Ihn konnten die sich täglich vermehrenden Galgen der Immobilienfirmen, inzwischen fast vor jedem zweiten Haus und Gebäude, nicht schrecken. Nur glaubte er seit einiger Zeit, im Grunde ein Karton zu sein. Junge Familien, von zu Geld gekommenen Eltern unterstützt oder durch den Beruf des Ernährers auf der Seite der schnell reich Gewordenen, führten sich mit hochglänzend gekachelten Terrassenanlagen und schematischen Säulenportalen auf, wie zu allem entschlossene, dem gemeinen Volk rechtmäßig entrückte Kleinfürsten. Man konnte zusehen, wie der Gegend ziemlich unvorteilhaft der Kamm schwoll. Jobst hatte das überraschend Geerbte mit kaufmännischem Geschick, mit wirklich überdurchschnittlichem Geschäftssinn genutzt. Ob ein gefüllter oder ungefüllter Karton, schien ziemlich gleichgültig. Er war zäh, gelenkig, ohne Größenwahn, ohne unmittelbare Konkurrenz und verläßlich zuvorkommend, was seinen Kunden im Zusammenhang mit einer Ladentheke als die schönste Form von Menschlichkeit erschien.

"Pappwände, alles Pappkameraden", sagte er sich, hörte es sich sogar laut aussprechen.

Sein Gefühl war bräunlich. Dunkelocker? Asphalt? Nach zehnjähriger Ehe stand er unmittelbar vor der Scheidung von seiner Frau Ellen und vor einer ganz frischen Heirat, bei der es vermutlich ebenfalls nicht ohne Feuerwerk abgehen würde. Wenn er an Ellen zurückdachte, um seinen Entschluß ein letztes Mal zu überprüfen, fiel ihm nichts so prompt und abschreckend ein wie das Abspreizen ihrer kleinen Finger von der übrigen Hand, rechts wie links, so, als wäre sie heimlich zu Höherem erwählt, egal, ob sie Geschenkpapier verkaufte, einen Braten pfefferte oder an seinem Körper mal fraulich, mal hausfraulich herumstreichelte.

In Wahrheit sah er gar nicht aus wie ein Karton, überhaupt nicht! Seine Freundin Natalja, eine junge Russin, vernarrt in Porzellan- und Stoffpuppen, ahnte nichts von diesen Flausen, hätte wohl runde Augen dazu gemacht und ihn in die Ohren gekniffen. Sie half bei ihm aus, bezaubernd, energisch, ein Gewinn für das Geschäft. Auch, vielmehr gerade, als seine Frau das nicht mehr mit ansehen wollte und sich zuerst vom Publikumsverkehr, dann von ihm, Böhme, zurückgezogen hatte, ging es blühend weiter mit Natalja und dem Umsatz. Ihr Vater, in Petersburg geboren, wie Natalja im mittlerweile dreihundertjährigen Sankt Petersburg, zwischendurch Leningrad, gebürtig, betrieb in einem anderen Stadtteil eine kleine Polsterwerkstatt, befestigte aber auch Gardinenstangen, tapezierte Wohnzimmer und reparierte Gartenzäune, machte eigentlich alles.

Nataljas erster Freund im Westen war ein Key Account Manager gewesen oder Global Industry Manager. Sie verwechselte das gelegentlich und schlug sich dann schulmädchenhaft auf den Mund, was Böhme fast entzückte, dieses Natürliche an ihr, dieses leicht Östlich-Schlampige auch. Deshalb hatte er sie in der ersten Zeit, als sie ganz unkompliziert seine Geliebte geworden war, dort drüben, in dem Raum mit den PC-Modellen, häufig nach diesen Liebhabern gefragt. Ihm gefiel die läppische Eifersucht, die sich in ihm regte, wenn sie sagte, ihr Allererster überhaupt sei Straßenmusikant gewesen, der beste Freund des Vaters aus der Heimatstadt. Er antwortete dann jedesmal dieser offenbar in allem gehorsamen russischen Tochter, er sei zwar nur gelernter Bilanzbuchhalter, würde sie aber eines Tages heiraten. Das sei ziemlich gewiß.

Die eine 39, die andere 23 Jahre alt, erwog er gelegentlich auch. Und, wenn er zum Spaßen aufgelegt war: Wenn die eine 93 wird, wird die andere erst 32!

Inzwischen schmiß Natalja den Laden. Sie verstand nichts von Technik, von Elektronik schon gar nicht, insofern blieb er völlig unangefochten der Boss. Aber das kontrolliert Schmuddelige, raffgierig Großzügige ihres Auftretens (und wie er längst wußte: auch ihres Körpers) zwischen den teuren Grußkarten, Seidenbändern, Spezialumschlägen zog Kinder, Herren mittleren Alters und greise Witwen gleichermaßen an. Sie betörte alle mit ihrer Stimme, diesem Akzent, diesem glucksend springlebendigen und ein klein bißchen melancholischen Vogelgezwitscher, betörte besonders ihn, Jobst.

Sogar Ellen, der es nun endgültig Lebewohl zu sagen galt, war Nataljas Artikulationen ganz zu Anfang erlegen, und es kam ihm damals so vor, als hätte sie ihr blödsinniges Abspreizen des kleinen Fingers, mit dem sie ihn einmal vor vielen Jahren zu Beginn ihrer Bekanntschaft neugierig gemacht hatte, angesichts dieses gutgelaunten Naturkindes vergessen, bis sie dann, je mehr Böhme den Reiz Nataljas erkannte, rückfällig wurde und es, vielleicht zum demütigenden Zeichen westlicher Zivilisation gegenüber östlichem Barbarentum, ärger trieb als je zuvor. Wären doch bloß diese beiden Dinger an ihren Händen weggewesen!

Gründe, eine Ehe zu beenden und sogar eine neue zu wagen? Kleine Finger hier und eine charmante Aussprache dort?

Er sah aus dem Schaufenster weiter durch den Spalt zwischen den Kalendern und Postern auf die Straße. Vor einigen Wochen hatte er mit Natalja, um sie mit einer anderen Seite der Stadt zu verblüffen, einen Spaziergang durch ein Flußtal im Norden gemacht. Zu beiden Seiten des Wassers gab es noch schmale Streifen eines ursprünglichen Auwalds. Danach hatten sie in einer langgestreckten Einkaufspassage Kaffee getrunken. Konstruiert wie das Flußtal, mußte er die ganze Zeit denken. Oder war die Reihenfolge umgekehrt gewesen? Dann hatte er eben während der Wanderung immer gedacht: Angelegt wie eine Einkaufspassage! Auch war ja seine kleine Russin für ein Weilchen im einen Fall hinter einem Baum, im anderen auf der Toilette verschwunden.

Die Leute strömten auf und ab. Gingen die zu einem Fest mit Körben und Taschen? Nein, zum möglichst malerischen Einkaufen auf dem teuren Wochenmarkt doch bloß. Er starrte auf das Wäschegeschäft gegenüber, dämlich vollgehängt mit faden Nachthemden, auf die Apotheke, die dringend trübselige Gratisuntersuchungen empfahl, auf die Parfümerie mit den bildhübschen Verkäuferinnen, die Düfte von oben bis unten ausströmten und auf den bei Ausgehwetter speziell von alten Damen gehätschelten Mann mit der Obdachlosenzeitung, der sich im Wind durch Einziehen des Kopfes immer in einen Marabu verwandelte. Alles an seinem Platz wie immer also. Nur dachte er jetzt: Taube, jawohl, ungefüllte Kartonage, auch wenn es zum Glück keiner sieht. Keiner soll wissen, daß ich es weiß, von ihnen weiß, von mir weiß, nicht die winzigste Russin, kein Käufer.

Sie alle schmeckten wie gottverdammte Pizza auf durchgefeuchtetem Pappteller: Pappig sie alle ihm, pappig er sich selbst.

Von hinten klopfte ihm jemand auf die Schulter. Natalja? Wunderte die sich denn gar nicht über das hohle Geräusch? Sie wollte wissen, ob ein Preis wegen Beschädigung geändert werden durfte. Jaja, warum nicht. Wenn sie meinte. Er ging ins Stübchen ihrer ersten Liebe, in den PC-Raum, spähte ungestört durch sein Fensterchen nach draußen. Nichts sah von dort betrachtet anders aus als eben durch den Spalt. 'Sterbenselend', dachte er. So fühlte er sich nicht, aber ihm fiel ein, daß es das Wort gab.

Ellen kämpfte nicht mehr. Sie wollte nun ihrerseits nicht wieder zurück. Wie hätte das auch gehen sollen? Eigentlich lief alles wie am Schnürchen. Man könnte dann auch ein Kind haben, ein deutsch-russisches. Allerdings wären sie beide, Natalja und er, auch einsam und aufeinander angewiesen, so vollständig ohne Ellen. Er stieß mit seinem Gesicht an ein Regal: Schürfgeräusch! Jobst erschrak, versuchte es noch mal, Gesicht am Regal, kein Zweifel: Pappe strich an Metall entlang. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn: Pappe geriet an Pappe.

Dann sollte er wohl tatsächlich das Angebot eines Menschen annehmen, dem er als einzigem andeutungsweise von seiner nur Natalja halbwegs aussparenden Fühllosigkeit erzählt hatte, vor einer Stunde erst. Halbwegs? Der versponnene Mann war ja Schriftsteller. Er meinte, Böhme gegenüber zu Dankbarkeit verpflichtet zu sein, weil der ihm, dem Faulpelz in elektronischer Wissenserweiterung, seine steinzeitliche Furcht vor der neuen Technik ausgeredet, einen PC verkauft und bei den aufgrund seiner Ungeschicklichkeit häufigen Bedienungsschwierigkeiten nach Geschäftsschluß freundschaftlich geholfen hatte. Durch solche großzügigen Angebote sicherte Böhme sich die Treue seiner Kunden, die dafür dann lieber etwas mehr bezahlten als in den "seelenlosen", wie sie sagten, Großparadiesen der Innenstadt.

"Machen Sie sich hier für eine Woche frei und fahren Sie in die Berge. Sie wohnen in meinem Haus, nicht größer als eine Schachtel. Wein, Nudeln, Kaffee sind vorhanden." Dabei hatte der Mensch doch immer irgendwelche Löcher im Pullover.

"Wein, Nudeln, Kaffee. Und was soll das?"

"Es gibt dort das Tal Binoz mit der Binozhütte und der Alp Binoz ganz am Ende. Das wird Sie kurieren, ob es sich nur um Heiratslampenfieber handelt oder um mehr. Sie sollten dort jeden Tag wandern gehen, so weit Sie kommen und dann wieder zurück. Ich möchte allerdings eine kleine Bitte daran knüpfen", hatte der Mann ohne langes Überlegen, wenn auch zum Schluß in sich hineinschmunzelnd gesagt. Er verstand augenscheinlich einiges von Böhmes Situation, drängte daher zur Eile.

"Ich kann unmöglich den Laden verlassen." Jobst Böhme versuchte, sich mit der Abwesenheit seiner Frau herauszureden.

"Solche Entschlüsse müssen ruckzuck gefaßt und ausgeführt sein", lachte jedoch der dankbare Autor, "Sie besitzen in Ihrer Natalja eine tolle, richtig dolle Vertreterin. Spitzenattraktion. Was verlangen Sie denn! Ein verlängertes Wochenende, Hinfahrt, Rückfahrt und drei Tage dazwischen! Überhaupt kein Risiko."

Böhme erschien die Idee so verrückt, daß sie ihn zu reizen begann, und das Mädchen war begeistert von der Aussicht, ganz allein für kurze Zeit das Geschäft führen zu dürfen. Zum ersten Mal sah er in ihren Augen Tränen, als hätte sie unvermittelt Schnupfen gekriegt. Schon brachte der Kunde den Schlüssel und einen Plan der Ortschaft vorbei, schon hatte Natalja seine Fahrkarten besorgt, schon saß er im Zug, der schnurstracks nach Süden fuhr. Zugfahren, wie lange er das nicht mehr gemacht hatte! Öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, die erzwungene Nähe der Leute samt den Haaren, die ihnen aus den Ohren wuchsen, ertragen zu müssen, empfand er immer mehr als Zumutung. Er wunderte sich daher jetzt über beinahe alles, ganz anders als in seinem Laden. So viele Nasen, alles Pappnasen! Ein Mann mit einem Eikopf und einem Ring im Ohr biß plötzlich in ein gekochtes Ei. Das kleine Ei verschwand ohne Klage im großen. Zwei laute Herren in Böhmes Alter hatten ihren Tisch in einen Büroschreibtisch mit Laptop und Telefon, Wirtschaftsblättern und Akten verwandelt. Ihre Umgebung kümmerte sie nicht im geringsten. Der Schaffner betrachtete sie mit Wohlwollen, ja geschmeichelt. Sie schienen seinen eigenen Beruf als einen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu adeln.

Böhme stellte sofort sein Mobiltelefon ab. Für die ganze Zeit!, nahm er sich fest vor. Auch ergänzten die Passagiere einander wie Bestecke in einer Schublade, wie Werkzeuge in einem Kasten, konkave und konvexe Bäuche, heitere und gramvolle Mienen, Schlafende und unentwegt Herumhampelnde. Dann gleich zwei Mütter, die, ähnlich wie die beiden Büroherren alle Umsitzenden zum Mithören zwingend, ihren Kindern Grimms Märchen vorlasen. Eine kürbisförmige und außerdem goldblonde Frau erzählte einer anderen, sie habe als Musikchefin bei einem College-Radio in England angefangen, eine Girlsband fürs Fernsehen gecastet und jahrelang für Eins Live und MTV Europe gearbeitet. Jetzt habe sie in einer Woche wegen einer Jurysitzung sechzehn Bücher gelesen, jeden Tag zwei Romane. Eine so dicke Frau in einer literarischen Jury? War es Zufall, daß daraufhin ein Mann in eine andere Richtung prahlte, er sei in acht Tagen 72 Stunden in der Luft gewesen? Sechzehn Romane! Die waren nun in ihr untergebracht. Daß man von Büchern leiblich so anschwellen konnte! Dabei hatten sie sich bestimmt längst wieder aus ihr verflüchtigt.

Jeden Tag zwei Romane. Die Auskunft kam wie gerufen und ermutigte Jobst Böhme sehr. Denn der Schriftsteller hatte ja eine Bitte geäußert, eine Bedingung gestellt, und die lautete, er solle oben in den Bergen, nach soviel williger Assistenz seinerseits bei der Bücherschreiberei am Computer, doch wirklich einmal etwas von ihm, dem Schriftsteller, lesen! Nur drei Kleinromane, jeden Tag einen, am besten irgendwo an einer schönen Stelle in dem gewissen Hochtal. Noch kein anderer habe einen Blick auf die Manuskripte geworfen. Auch dieses Lesen in der Einsamkeit, ein erstes Korrekturlesen, werde ihm garantiert gut bekommen. Die Reihenfolge solle er selbst bestimmen, obschon er, der Autor, eine bestimmte Vorstellung davon habe, ja, doch, so könne man wohl sagen, eine bestimmte Vorstellung habe davon. Diese Romane seien womöglich, wie das Binoztal, genau das Richtige für ihn!

Böhme sah im Zug nur nach der Länge und den Überschriften. Sie lauteten:

Der Mann mit den Mundwinkeln
Errötende Mörder
Der böse Wolfsen oder Das Ende der Demokratie


(...)

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