Brigitte Kronauer: "Errötende Mörder"
Jobst
Böhme, 41- jähriger
Besitzer eines Büroartikelgeschäftes in
Norddeutschland ist in eine
Lebenskrise geraten. Er hat sich von seiner jüngeren Frau
Ellen scheiden
lassen, weil er sich in die 23-jährige Natalja aus St.
Petersburg verliebt hat.
Als Jobst sich einem Schriftsteller, dem er einen
Computer verkauft und eingerichtet hat, während dieser
Verkaufsbeziehung öffnet
und ihm von seinem Gefühl des Ausgebranntseins
erzählt, rät dieser
Schriftsteller ihm zu einem langen Wochenende in den Schweizer Bergen.
Er stellt
Jobst sein "Haus zur Seewiese" zur Verfügung. Seine Einladung
aber
verbindet er mit der Bitte, Jobst möge doch während
dieser erholsamen Tage in
den Bergen die Manuskripte von drei unveröffentlichten
Kurzromanen lesen. Jobst
geht sehr schnell auf diesen Vorschlag ein und sitzt kurz darauf im Zug
in die
Schweiz. Den Laden hat er in der Zwischenzeit Natalja anvertraut. Denn "vor
allem wegen Natalja wollte er unbedingt wieder ein Mann aus Fleisch und
Blut
werden, noch bevor sie mit dem riesigen Hohlraum, den er zur Zeit unter
der
Oberfläche namens Jobst Böhme verbarg, in
Berührung käme."
Schon am ersten Morgen nach seiner Ankunft unternimmt Jobst eine
Wanderung, die
ihn in ein Tal hineinführt, und er nimmt gleich das erste
Manuskript mit. Während
einer Ruhepause auf einer Bank beginnt er zu lesen, und er, der wohl in
der
letzten Zeit wenig Muße zum ungestörten Lesen
hätte, fällt geradezu in die
Geschichte mit dem Titel "Der böse Wolfsen oder Das Ende der
Demokratie"
hinein.
Das Manuskript erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich
nach dem
Verschwinden seiner Freundin zunehmend in sich zurückzieht und
sozial
vereinsamt, wobei er sich in immer stärkere Paranoia
versteigt, überzeugt
davon ist, dass das Ende der Demokratie bevorstehe, und in manchen
Augenblicken
glaubt er, er selbst habe seine Freundin Dotte Wamser totgeschlagen.
Während sich Jobst noch fragt, ob der Mann nun ein
Mörder ist oder nicht,
begegnet er bei seiner Rückkehr ins "Haus zur Seewiese" einer
kroatischen
Putzfrau und macht sich mit ihr bekannt. Er verbringt eine ruhige Nacht
und
beschließt, am nächsten Tag noch tiefer in das Tal
hineinzugehen. Während er
die Schüsse aus den Flinten der Jäger wahrnimmt, die
die Jagdsaison eröffnen,
liest er auf einer anderen Bank als am Tag zuvor das zweite Manuskript
mit dem
Titel "Errötende Mörder", eine etwas abstruse
Geschichte über die
Wahrnehmungen eines gewissen Sven Strör.
Nach der Lektüre dieses Manuskriptes verbeißt sich
Jobst Böhme in den etwas
paranoiden Gedanken, der Schriftsteller habe ihm nur deshalb zur der
Erholungsreise geraten und ihm großzügig sein Haus
zur Verfügung gestellt,
damit er ungestört mit Jobsts Freundin Natalja vögeln
könne.
Am dritten und letzten Tag seines Aufenthaltes hat sich Jobst den
Aufstieg zur
Alp Binoz vorgenommen, ein weiter Weg. Unterwegs begegnet ihm, wie
schon an den
beiden Tagen zuvor, ein seltsamer Wanderer. Er trägt kurze
Hosen und hat
ausziehbare Wanderstöcke aus Metall dabei. Jobst kann den Kerl
nicht ausstehen,
obwohl er kein Wort mit ihm gewechselt hat. Im Schatten der
Hütte auf der Alp
Binoz liest Jobst Böhme das letzte Manuskript, "Der Mann mit
den
Mundwinkeln", in dem eine Kirchenführerin namens Petronia
über ihre
seltsamen Erfahrungen mit einem Motorradfahrer berichtet.
Während Jobst liest, kehrt der Mann mit den
Wanderstöcken zurück und
verwickelt ihn in eine bedrohliche Situation an einem Felsvorsprung,
aus der
sich Jobst aber retten kann.
Heimgekommen, fragt sich Böhme, was "ihm nun die
drei Ausflüge ins Tal und
die drei Geschichten gebracht (haben)?Auch das wusste er nicht und
scherte sich
nicht darum."
Auch als er abends im Restaurant mit "Herr Wolfsen" angesprochen wird,
denkt
er sich nichts dabei. Denn schon längst ist er in die
gelesenen Geschichten so
verwickelt, dass er nicht mehr herauskommt.
Am nächsten Morgen, eigentlich müsste er abreisen,
geht er ohne Gepäck zum
Bahnhof, wo ihm eine "schwarze Schar von Urlaubern aus
Antwerpen" auffällt,
"alle mit Schläfenlocken, so bedeutsam ausstaffiert,
auf den Zug wartend, in
dem auch er, Jobst, wäre es weiter nach Plan gegangen, zu
bedrängenden Häuslichkeiten,
ja sicher, zu gewohnten Geschäften von
äußerster Dringlichkeit, hätte
heimreisen müssen."
Doch es geht nicht nach Plan; Jobst Böhme fährt nicht
zurück.
In Brigitte Kronauers Roman werden laut Klappentext "Drei
Tableaus (...)
vor uns aufgeschlagen, reich an Anspielungen auf unsere unmittelbarste
Gegenwart. Drei Helden, die einen heiklen Punkt in ihrer Vergangenheit
haben,
ein seelisches Desaster. Sie erzählen vom Mann, von der Frau
und vom sich
zuspitzenden Verhältnis der Generationen. Niemand, der hier
nicht an einem
bestimmten Punkt seines Lebens dem Tod begegnete. So ist dieses Buch
wie eine
hell illuminierte Reise in die Dunkelheit."
Aus der Lektüre der Manuskripte wird für Kronauers
Hauptperson schnell eine
abenteuerliche Lesereise und eine Odyssee in die Innenwelten dreier
Figuren, eine
Slalomfahrt durch die Psyche der Zeitgenossen, die ihn selbst
verändert zurücklässt.
Brigitte Kronauer versteht es meisterhaft, Zeit- und
Wirklichkeitsebenen
ineinanderfließen zu lassen und lässt
Binnenerzählungen ihr Spiel treiben mit
den Erzählinstanzen. Sie schreibt in einem wachen, sorgsamen
und empfindlichen
Stil, der den Leser sehr bald in seinen eigentümlichen Bann
zieht.
(Winfried Stanzick; 10/2007)
Brigitte
Kronauer: "Errötende Mörder"
Klett-Cotta, 2007. 333 Seiten.
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Brigitte
Kronauer, 1940 in Essen
geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ihr
schriftstellerisches
Werk wurde unter anderem mit dem "Fontane-Preis" der Stadt Berlin, mit
dem
"Heinrich-Böll-Preis", dem "Hubert-Fichte-Preis" der Stadt
Hamburg und dem
"Joseph-Breitbach-Preis" ausgezeichnet. 2004 erschien ihr von der
Kritik
gefeierter Roman "Verlangen nach Musik und Gebirge". 2005 wurde ihr
der mit 40.000 Euro dotierte "Georg-Büchner-Preis" der
Darmstädter Akademie
verliehen ("Die Deutsche Akademie für Sprache und
Dichtung verleiht den
Georg-Büchner-Preis 2005 Brigitte Kronauer, der spielerisch
sicheren Erzählerin,
die ihren Sinn für das scheinbar Banale, für Komik,
Erotik und Sarkasmus hellhörig
und präzise auf alles Doppelbödige in
Gefühlen und Gesten richtet und so zu
einer Meisterin des Vexierspiels, der höheren Heiterkeit und
des musikalischen
Schreibens wird."):
"Verlangen nach Musik und Gebirge"
Sommer 2002. Die Erzählerin: sie kommt als Touristin,
für ein Wochenende und
eine Verabredung nur, und sie quartiert sich ein im "Malibu" nahe der
Seepromenade von Oostende. Schnell hat sich ein kleiner Kreis gebildet,
europäischen
Zuschnitts, und man ist gewillt, die Zeit zu nutzen: de Rouckl,
dauergekränkter
Künstlertyp; Willaert, Antwerpener Parfümerist und
undurchschaubarer Führer
durch das belgische Städtchen; und Roy, der
unglücklich Verliebte, der mit
seiner Großmutter da ist.
Im Zentrum: die von ihrem Liebhaber begleitete Italienerin Sonja, eine
hellblonde Schönheit, die "Schneeantilope". Bald sind wir
mittendrin
in Kabale und Liebe.
Dass die Welt nur als Begleitumstand einer Liebe zu ertragen ist, ist
nur eine
der Erkenntnisse dieses Romans. Ein Maskenball wird hier inszeniert,
ein
schnelldrehendes Schattenspiel zwischen den Geschlechtern vor dem
Hintergrund
zeitgenössischer Anblicke: Ferienburgen,
Vergnügungs-Gigantomanie und
Postkolonialismus. Das Wochenende führt die Gruppe in die
Nachtcafés, das
Ensor-Haus und zur Baustelle eines maritimen Luxusrestaurants. Wohl nie
hat
Brigitte Kronauer ihre Sprachmagie aufregender und raffinierter
eingesetzt als
hier. Von der Sehnsucht
in allen und in allem handelt dieser
große Roman, der
uns mit tausend Verlockungen in seinen Bann zieht. (Klett-Cotta)
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Leseprobe:
"Pappkameraden!" Vor allem durfte
er sich
nichts anmerken lassen. Es war nicht schlimm, solange die anderen
nichts
witterten.
"Bis auf Natalja alles Pappkameraden. Und du, Böhme, du
auch, du erst recht."
Er, Jobst Böhme, sah durch einen Spalt auf die
Straße, die
von seinem Geschäft aus leicht bergab zum Marktplatz
führte. Seine Mutter
hatte ihn vor bald einundvierzig Jahren unehelich in
größter Verlegenheit zur
Welt gebracht, als kleines Mädchen aber einstmals
fröhlich in den Trümmern
des Zweiten Weltkriegs 'Soldat auf Urlaub' mit einem Stock als Gewehr
über
der Schulter und 'Heimkehr aus dem Krieg' mit demselben Stock als
Krücke
gespielt, alles ohne größere Unglücke. Ihr
Vater war, wie dessen Bruder, in
der Nähe von Stalingrad vermutlich erfroren, vergilbte
Todesangst, Todesfälle,
von denen die Eltern der beiden Söhne nichts erfahren hatten,
da sie zuvor in
den Bombardierungen des Ruhrgebiets um gekommen waren, verbrannt,
erstickt oder
von Steinen erschlagen. Man besaß darüber keine
Information oder erinnerte
sich nicht mehr.
Dem Urenkel dieser beiden, Jobst, gehörte im gut- und
teilweise großbürgerlichen, etwas oberhalb des
Stroms gelegenen Vorort einer
norddeutschen Großstadt, in dem es seit einiger Zeit Mode
oder gar Zwang
geworden war, zu den Hochzeiten Feuerwerke zu veranstalten ("Feuerwerke
am Fließband,
es zischt und knallt das ganze Wochenende, sobald es dunkel wird. Die
merken gar
nicht, wie ordinär das ist", lachte Jobst im privaten Kreis
und schickte das
Wort "großkotzig" etwas leiser hinterher), ein florierendes,
nicht
unelegantes Geschäft für Büroartikel und
Anverwandtes. Da er durch Erbschaft
Besitzer des Hauses war, mußte er keine ruinösen
Mieterhöhungen befürchten.
Ihn konnten die sich täglich vermehrenden Galgen der
Immobilienfirmen,
inzwischen fast vor jedem zweiten Haus und Gebäude, nicht
schrecken. Nur
glaubte er seit einiger Zeit, im Grunde ein Karton zu sein. Junge
Familien, von
zu Geld gekommenen Eltern unterstützt oder durch den Beruf des
Ernährers auf
der Seite der schnell reich Gewordenen, führten sich mit
hochglänzend
gekachelten Terrassenanlagen und schematischen Säulenportalen
auf, wie zu allem
entschlossene, dem gemeinen Volk rechtmäßig
entrückte Kleinfürsten. Man
konnte zusehen, wie der Gegend ziemlich unvorteilhaft der Kamm schwoll.
Jobst
hatte das überraschend Geerbte mit kaufmännischem
Geschick, mit wirklich überdurchschnittlichem
Geschäftssinn genutzt. Ob ein gefüllter oder
ungefüllter Karton, schien
ziemlich gleichgültig. Er war zäh, gelenkig, ohne
Größenwahn, ohne
unmittelbare Konkurrenz und verläßlich zuvorkommend,
was seinen Kunden im
Zusammenhang mit einer Ladentheke als die schönste Form von
Menschlichkeit
erschien.
"Pappwände, alles Pappkameraden", sagte er sich,
hörte
es sich sogar laut aussprechen.
Sein Gefühl war bräunlich. Dunkelocker? Asphalt? Nach
zehnjähriger Ehe stand er unmittelbar vor der Scheidung von
seiner Frau Ellen
und vor einer ganz frischen Heirat, bei der es vermutlich ebenfalls
nicht ohne
Feuerwerk abgehen würde. Wenn er an Ellen
zurückdachte, um seinen Entschluß
ein letztes Mal zu überprüfen, fiel ihm nichts so
prompt und
abschreckend ein wie das Abspreizen ihrer kleinen Finger von der
übrigen Hand,
rechts wie links, so, als wäre sie heimlich zu
Höherem erwählt, egal, ob sie
Geschenkpapier verkaufte, einen Braten pfefferte oder an seinem
Körper mal
fraulich, mal hausfraulich herumstreichelte.
In Wahrheit sah er gar nicht aus wie ein
Karton,
überhaupt
nicht! Seine Freundin Natalja, eine junge Russin, vernarrt in
Porzellan- und
Stoffpuppen, ahnte nichts von diesen Flausen, hätte wohl runde
Augen dazu
gemacht und ihn in die Ohren gekniffen. Sie half bei ihm aus,
bezaubernd,
energisch, ein Gewinn für das Geschäft. Auch,
vielmehr gerade, als seine Frau
das nicht mehr mit ansehen wollte und sich zuerst vom Publikumsverkehr,
dann von
ihm, Böhme, zurückgezogen hatte, ging es
blühend weiter mit Natalja und dem
Umsatz. Ihr Vater,
in
Petersburg geboren, wie Natalja im mittlerweile
dreihundertjährigen Sankt Petersburg, zwischendurch Leningrad,
gebürtig,
betrieb in einem anderen Stadtteil eine kleine Polsterwerkstatt,
befestigte aber
auch Gardinenstangen, tapezierte Wohnzimmer und reparierte
Gartenzäune, machte
eigentlich alles.
Nataljas erster Freund im Westen war ein Key Account Manager
gewesen oder Global Industry Manager. Sie verwechselte das gelegentlich
und
schlug sich dann schulmädchenhaft auf den Mund, was
Böhme fast entzückte,
dieses Natürliche an ihr, dieses leicht
Östlich-Schlampige auch. Deshalb hatte
er sie in der ersten Zeit, als sie ganz unkompliziert seine Geliebte
geworden
war, dort drüben, in dem Raum mit den PC-Modellen,
häufig nach diesen
Liebhabern gefragt. Ihm gefiel die läppische Eifersucht, die
sich in ihm
regte, wenn sie sagte, ihr Allererster überhaupt sei
Straßenmusikant gewesen,
der beste Freund des Vaters aus der Heimatstadt. Er antwortete dann
jedesmal
dieser offenbar in allem gehorsamen russischen Tochter, er sei zwar nur
gelernter Bilanzbuchhalter, würde sie aber eines Tages
heiraten. Das sei
ziemlich gewiß.
Die eine 39, die andere 23 Jahre alt, erwog er gelegentlich
auch. Und, wenn er zum Spaßen aufgelegt war: Wenn die eine 93
wird, wird die
andere erst 32!
Inzwischen schmiß Natalja den Laden. Sie verstand nichts
von Technik, von Elektronik schon gar nicht, insofern blieb er
völlig
unangefochten der Boss. Aber das kontrolliert Schmuddelige, raffgierig
Großzügige
ihres Auftretens (und wie er längst wußte: auch
ihres Körpers) zwischen den
teuren Grußkarten, Seidenbändern,
Spezialumschlägen zog Kinder, Herren
mittleren Alters und greise Witwen gleichermaßen an. Sie
betörte alle mit
ihrer Stimme, diesem Akzent, diesem glucksend springlebendigen und ein
klein bißchen
melancholischen Vogelgezwitscher, betörte besonders ihn, Jobst.
Sogar Ellen, der es nun endgültig Lebewohl zu sagen galt,
war Nataljas Artikulationen ganz zu Anfang erlegen, und es kam ihm
damals so
vor, als hätte sie ihr blödsinniges Abspreizen des
kleinen Fingers, mit dem
sie ihn einmal vor vielen Jahren zu Beginn ihrer Bekanntschaft
neugierig gemacht
hatte, angesichts dieses gutgelaunten Naturkindes vergessen, bis sie
dann, je
mehr Böhme den Reiz Nataljas erkannte,
rückfällig wurde und es, vielleicht
zum demütigenden Zeichen westlicher Zivilisation
gegenüber östlichem
Barbarentum, ärger trieb als je zuvor. Wären doch
bloß diese beiden Dinger an
ihren Händen weggewesen!
Gründe, eine Ehe zu beenden und sogar eine neue zu wagen?
Kleine Finger hier und eine charmante Aussprache dort?
Er sah aus dem Schaufenster weiter durch den Spalt zwischen
den Kalendern und Postern auf die Straße. Vor einigen Wochen
hatte er mit
Natalja, um sie mit einer anderen Seite der Stadt zu
verblüffen, einen
Spaziergang durch ein Flußtal im Norden gemacht. Zu beiden
Seiten des Wassers
gab es noch schmale Streifen eines ursprünglichen Auwalds.
Danach hatten sie in
einer langgestreckten Einkaufspassage Kaffee getrunken. Konstruiert wie
das Flußtal,
mußte er die ganze Zeit denken. Oder war die Reihenfolge
umgekehrt gewesen?
Dann hatte er eben während der Wanderung immer gedacht:
Angelegt wie eine
Einkaufspassage! Auch war ja seine kleine Russin für ein
Weilchen im einen Fall
hinter einem Baum, im anderen auf der Toilette verschwunden.
Die Leute strömten auf und ab. Gingen die zu einem Fest mit
Körben und Taschen? Nein, zum möglichst malerischen
Einkaufen auf dem teuren
Wochenmarkt doch bloß. Er starrte auf das
Wäschegeschäft gegenüber, dämlich
vollgehängt mit faden Nachthemden, auf die Apotheke, die
dringend trübselige
Gratisuntersuchungen empfahl, auf die Parfümerie mit den
bildhübschen Verkäuferinnen,
die Düfte von oben bis unten ausströmten und auf den
bei Ausgehwetter speziell
von alten Damen gehätschelten Mann mit der Obdachlosenzeitung,
der sich im Wind
durch Einziehen des Kopfes immer in einen Marabu verwandelte. Alles an
seinem
Platz wie immer also. Nur dachte er jetzt: Taube, jawohl,
ungefüllte Kartonage,
auch wenn es zum Glück keiner sieht. Keiner soll wissen,
daß ich es weiß, von
ihnen weiß, von mir weiß, nicht die winzigste
Russin, kein Käufer.
Sie alle schmeckten wie gottverdammte Pizza auf
durchgefeuchtetem Pappteller: Pappig sie alle ihm, pappig er sich
selbst.
Von hinten klopfte ihm jemand auf die Schulter. Natalja?
Wunderte die sich denn gar nicht über das hohle
Geräusch? Sie wollte wissen,
ob ein Preis wegen Beschädigung geändert werden
durfte. Jaja, warum nicht.
Wenn sie meinte. Er ging ins Stübchen ihrer ersten Liebe, in
den PC-Raum, spähte
ungestört durch sein Fensterchen nach draußen.
Nichts sah von dort betrachtet
anders aus als eben durch den Spalt. 'Sterbenselend', dachte er. So
fühlte
er sich nicht, aber ihm fiel ein, daß es das Wort gab.
Ellen kämpfte nicht mehr. Sie wollte nun ihrerseits nicht
wieder zurück. Wie hätte das auch gehen sollen?
Eigentlich lief alles wie am
Schnürchen. Man könnte dann auch ein Kind haben, ein
deutsch-russisches.
Allerdings wären sie beide, Natalja und er, auch einsam und
aufeinander
angewiesen, so vollständig ohne Ellen. Er stieß mit
seinem Gesicht an ein
Regal: Schürfgeräusch! Jobst erschrak, versuchte es
noch mal, Gesicht am
Regal, kein Zweifel: Pappe strich an Metall entlang. Er fuhr sich mit
der Hand
über die Stirn: Pappe geriet an Pappe.
Dann sollte er wohl tatsächlich das Angebot eines Menschen
annehmen, dem er als einzigem andeutungsweise von seiner nur Natalja
halbwegs
aussparenden Fühllosigkeit erzählt hatte, vor einer
Stunde erst. Halbwegs? Der
versponnene Mann war ja Schriftsteller. Er meinte, Böhme
gegenüber zu
Dankbarkeit verpflichtet zu sein, weil der ihm, dem Faulpelz in
elektronischer Wissenserweiterung, seine steinzeitliche Furcht vor der
neuen
Technik ausgeredet, einen PC verkauft und bei den aufgrund seiner
Ungeschicklichkeit häufigen Bedienungsschwierigkeiten nach
Geschäftsschluß
freundschaftlich geholfen hatte. Durch solche
großzügigen Angebote sicherte Böhme
sich die Treue seiner Kunden, die dafür dann lieber etwas mehr
bezahlten als in
den "seelenlosen", wie sie sagten, Großparadiesen der
Innenstadt.
"Machen Sie sich hier für eine Woche frei und fahren Sie
in die Berge. Sie wohnen in meinem Haus, nicht
größer als eine Schachtel.
Wein, Nudeln, Kaffee sind vorhanden." Dabei hatte der Mensch doch immer
irgendwelche Löcher im Pullover.
"Wein,
Nudeln,
Kaffee. Und was
soll das?"
"Es gibt dort das Tal Binoz mit der Binozhütte und der Alp
Binoz ganz am Ende. Das wird Sie kurieren, ob es sich nur um
Heiratslampenfieber handelt oder um mehr. Sie sollten dort jeden Tag
wandern gehen, so weit Sie kommen und dann wieder zurück. Ich
möchte
allerdings eine kleine Bitte daran knüpfen", hatte der Mann
ohne langes Überlegen,
wenn auch zum Schluß in sich hineinschmunzelnd gesagt. Er
verstand
augenscheinlich einiges von Böhmes Situation, drängte
daher zur Eile.
"Ich kann unmöglich den Laden verlassen." Jobst Böhme
versuchte, sich mit der Abwesenheit seiner Frau herauszureden.
"Solche Entschlüsse müssen ruckzuck gefaßt
und ausgeführt sein", lachte jedoch der dankbare Autor,
"Sie besitzen in Ihrer Natalja eine
tolle, richtig dolle Vertreterin. Spitzenattraktion. Was verlangen Sie
denn! Ein
verlängertes Wochenende, Hinfahrt, Rückfahrt und drei
Tage dazwischen! Überhaupt
kein Risiko."
Böhme erschien die Idee so verrückt, daß
sie ihn zu
reizen begann, und das Mädchen war begeistert von der
Aussicht, ganz allein für
kurze Zeit das Geschäft führen zu dürfen.
Zum ersten Mal sah er in ihren
Augen Tränen, als hätte sie unvermittelt Schnupfen
gekriegt. Schon brachte der
Kunde den Schlüssel und einen Plan der Ortschaft vorbei, schon
hatte Natalja
seine Fahrkarten besorgt, schon saß er im Zug, der
schnurstracks nach Süden
fuhr. Zugfahren, wie lange er das nicht mehr gemacht hatte!
Öffentliche
Verkehrsmittel zu benutzen, die erzwungene Nähe der Leute samt
den Haaren, die
ihnen aus den Ohren wuchsen, ertragen zu müssen, empfand er
immer mehr als
Zumutung. Er wunderte sich daher jetzt über beinahe alles,
ganz anders als in
seinem Laden. So viele
Nasen, alles Pappnasen! Ein Mann mit einem
Eikopf und
einem Ring im Ohr biß plötzlich in ein gekochtes Ei.
Das kleine Ei verschwand
ohne Klage im großen. Zwei laute Herren in Böhmes
Alter hatten ihren Tisch in
einen Büroschreibtisch mit Laptop und Telefon,
Wirtschaftsblättern und Akten
verwandelt. Ihre Umgebung kümmerte sie nicht im geringsten.
Der Schaffner
betrachtete sie mit Wohlwollen, ja geschmeichelt. Sie schienen seinen
eigenen
Beruf als einen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu adeln.
Böhme stellte sofort sein Mobiltelefon ab. Für die
ganze
Zeit!, nahm er sich fest vor. Auch ergänzten die Passagiere
einander wie
Bestecke in einer Schublade, wie Werkzeuge in einem Kasten, konkave und
konvexe
Bäuche, heitere und gramvolle Mienen, Schlafende und unentwegt
Herumhampelnde.
Dann gleich zwei Mütter, die, ähnlich wie die beiden
Büroherren alle
Umsitzenden zum Mithören zwingend, ihren Kindern
Grimms
Märchen vorlasen. Eine
kürbisförmige und außerdem goldblonde Frau
erzählte einer anderen, sie habe
als Musikchefin bei einem College-Radio in England angefangen, eine
Girlsband fürs
Fernsehen gecastet und jahrelang für Eins Live und MTV Europe
gearbeitet. Jetzt
habe sie in einer Woche wegen einer Jurysitzung sechzehn
Bücher gelesen, jeden
Tag zwei Romane. Eine so dicke Frau in einer literarischen Jury? War es
Zufall,
daß daraufhin ein Mann in eine andere Richtung prahlte, er
sei in acht Tagen 72
Stunden in der Luft gewesen? Sechzehn Romane! Die waren nun in ihr
untergebracht. Daß man von Büchern leiblich so
anschwellen konnte! Dabei
hatten sie sich bestimmt längst wieder aus ihr
verflüchtigt.
Jeden Tag zwei Romane. Die Auskunft kam wie gerufen und
ermutigte Jobst Böhme sehr. Denn der Schriftsteller hatte ja
eine Bitte geäußert,
eine Bedingung gestellt, und die lautete, er solle oben in den Bergen,
nach
soviel williger Assistenz seinerseits bei der
Bücherschreiberei am Computer,
doch wirklich einmal etwas von ihm, dem Schriftsteller, lesen! Nur drei
Kleinromane, jeden Tag einen, am besten irgendwo an einer
schönen Stelle in dem
gewissen Hochtal. Noch kein anderer habe einen Blick auf die
Manuskripte
geworfen. Auch dieses Lesen in der Einsamkeit, ein erstes
Korrekturlesen, werde
ihm garantiert gut bekommen. Die Reihenfolge solle er selbst bestimmen,
obschon
er, der Autor, eine bestimmte Vorstellung davon habe, ja, doch, so
könne man
wohl sagen, eine bestimmte Vorstellung habe davon. Diese Romane seien
womöglich,
wie das Binoztal, genau das Richtige für ihn!
Böhme sah im Zug nur nach der Länge und den
Überschriften.
Sie lauteten:
Der Mann mit den Mundwinkeln
Errötende Mörder
Der böse Wolfsen oder Das Ende der Demokratie
(...)