Helmut Krausser: "UC Ultrachronos"


UC, Ultrachronos, bezeichnet eine Wahrnehmung, die angeblich unmittelbar vor dem Tod eines Menschen geschieht: Das ganze Leben läuft wie ein Film in extremem Zeitraffer vor einem ab. Darum geht es in diesem Buch: um den Erinnerungsfilm eines Mannes, der nur noch wenige Augenblicke zu leben hat.

Hermann Hesses "Steppenwolf" galt lange Zeit als der deutsche Individuationsroman und stellte die Frage nach der räumlichen und zeitlichen Identität des Hauptprotagonisten. Dabei fand diese Suche im "Steppenwolf" schwerpunktmäßig im "Magischen Theater" statt. In gewisser Weise ist "UC" ("Ultrachronos") der "Steppenwolf" des beginnenden 21. Jahrhunderts. So zumindest sieht es bis zur Mitte des Buches weitgehend aus.

Arndt Hermannstein ist ein junger aufstrebender Dirigent, reich verheiratet und dabei freimütig promiskuitiv. Bis er sich eines Tages bei einer Konzertprobe in London mit dem ganzen Orchester überwirft und danach sehr öffentlich einen Skandal in einer Stripbar verursacht.
Kurz darauf erinnert er sich in einer Wohnung daran, wie er vor einigen Jahren einmal eine Begegnung mit einer Prostituierten hatte, die sehr große Ähnlichkeiten mit einer ehemaligen Klassenkameradin aufwies. Überhaupt machen Erinnerungen an sexuelle Kontakte in Arndt Hermannsteins Jugendzeit einen großen Bestandteil des ersten Teils dieses Buches aus, wobei insbesondere ein Kontakt ihn immer wieder in tiefes Nachdenken stürzt.
Ein Bekannter ruft ihn nämlich an, um ihm mitzuteilen, dass die Leiche einer gewissen Marika S. gefunden wurde, nach fast 20 Jahren, und die Polizei nun gerne mit ihm sprechen würde. Alles Interesse an seiner Karriere aufgebend, begibt er sich auf die Suche nach seiner fehlenden Erinnerung an den Abend, an dem diese junge Frau nach einer ausgelassenen Fete plötzlich verschwunden war. Er befürchtet nämlich, dass er ihr Mörder sein könnte.

Zu diesem potenziellen Opfer seiner Erinnerungslücken kommt später noch eine junge Dame namens Claudia, deren Aufenthaltsort auch seit einiger Zeit unbekannt ist. Mit Hilfe einer anderen Klassenkameradin namens Anne macht sich Hermannstein auf die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit, wobei er mehr und mehr das Gefühl bekommt, dass diese quasi "nach Wahl" sein könnte - etwas, was der Joker in "The killing Joke" als einen erstrebenswerten Zustand angesehen hatte.
Als Arndt Hermannstein zunehmend davon überzeugt ist, dass er immer schneller den Verstand verliert, tritt Samuel Kurthes mit ihm in Kontakt, eine Art von Guru, der sich mit der Weiterentwicklung des Menschen zu einem Ultrachronos - einem zwischen verschiedenen Zeitlinien herumreisenden Wesen - sieht. Kurthes hat den Verdacht, dass der ahnungslose Hermannstein tatsächlich das erste Wesen dieser neuen Art sein könnte, was ihn - der dieses Phänomenen schon so lange erforscht - in gewisser Weise eifersüchtig macht. Trotzdem beschließt er, so etwas wie ein Mentor für Hermannstein zu sein, bevor er diesen dann doch schließlich in seine eigene Selbstauslöschung rennen lässt, damit er so die nächste Stufe seiner möglichen Existenz erreicht.

Später sieht es so aus, als habe der vormalige Romanautor Kurthe Arndt mit der Feder gesteuert, um ihm dabei ein möglichst interessantes, wenn auch im Endeffekt unaufgelöstes Leben und Sterben zu geben. Und während das Buch mit den Gedanken verschiedener Charaktere zu diesem Thema abschließt, schaltet sich auch eine weitere Figur namens Helmut - wohl derjenige, den Kurthe "Chef" nannte - in die Gedanken ein, was die Dinge aber nicht wirklich klärt.
Das letzte Achtel des Buchs dient tatsächlich in erster Linie dazu, die fiktiv-narrative Welt des Romans endgültig aufzulösen und den Leser irgendwo zwischen narrativer und scheinbar realer Welt hängen zu lassen.

Einige Passagen des Buchs sind durchaus bedenkenswert, aber die Philosophierereien Kurthes in der Mitte des Romans sind übertrieben stark ausgeführt. Sie würden in der Hälfte des Texts die gleiche Information übermitteln und dabei nicht so ermüden. Die Zeit- und Wahrnehmungssprünge sind für Leser, die dies nicht bereits kennen, extrem gewöhnungsbedürftig, stören aber eigentlich nicht.

Insgesamt wirkt der Roman auf den Rezenenten allerdings wie eine interessante Grundidee, die aber auch nicht sonderlich neu ist, welche im Versuch der "Kunstherstellung" dann in der Umsetzung manchmal überaus bemüht erscheint und im inneren Zusammenhang einige sehr unschöne und überflüssige Sprünge hat. Oder der Rezensent ist einfach nur zu dumm für ein verdammt schlaues Konzept und seine Ausführung ...

(K.-G. Beck-Ewerhardy)


Helmut Krausser: "UC Ultrachronos"
rororo, 2004.
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Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen, schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Tagebücher, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und Musik. Von ihm erschienen u.A. die Romane "Fette Welt" (1992), "Melodien oder Nachträge zum quecksilbernen Zeitalter" (1993), "Thanatos" (1996), "Der große Bagarozy" (1997), "UC Ultrachronos" (2003), "Eros" (2006), "Die kleinen Gärten des Maestro Puccini" (2008), "Einsamkeit und Sex und Mitleid" (2009), "Die letzten schönen Tage" (2011) und "Nicht ganz schlechte Menschen" (2012). Mehrere seiner Bücher wurden verfilmt und seine Werke wurden in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.

Weitere Bücher des Autos (Auswahl):

"Fette Welt"

Hagen Trinker, Penner und Poet, wird durch fatale Ereignisse aus der schiefen Bahn geworfen. Zu den Prüfungen, die ihm das Leben abverlangt, gehört eine Anstellung in einem Bestattungsinstitut. Herodes bringt Kleinkinder um und bezeichnet sich selbst als "Forscher der Stille". Auf ihn sind 100.000 DM Kopfgeld ausgesetzt. Judith, sechzehn Jahre alt, ist von zu Hause ausgerissen und setzt erst einmal zu einer Bruchlandung an. 
Wie hängen diese und andere Figuren zusammen? Wer verliebt sich in wen, und wer will wem Böses? Wo die Oper Wirklichkeit und die Realität Simulation wird; weshalb Horror und Märchen so nahe bei einander liegen; warum Agonie und Ekel so komisch sein können - "Fette Welt" ist die Antwort ...
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"Alles ist gut"
"Die Welt braucht neue gute Opern!"
Marius Brandt versucht im Musikbetrieb Fuß zu fassen, doch kein Intendant eines Opernhauses zeigt Interesse an seinen neotonalen Werken, die der Gattung neue gesellschaftliche Relevanz verleihen sollen. Zunehmend frustriert, von Mordfantasien geplagt, gerät Brandt an jahrhundertealte, verschlüsselte Musikaufzeichnungen, die er nach und nach enträtselt. Teile davon baut er in eine Auftragskomposition ein, die er "Alles ist gut" nennt.
Bei der Uraufführung kommt es zu rätselhaften Schwächeanfällen im Publikum. Einer der Zuhörer stirbt sogar. Er bleibt nicht der einzige Tote. Doch niemand kommt auf den Gedanken, Brandts Musik könnte dafür verantwortlich sein. Der Komponist selbst begreift zwar, dass etwas Absonderliches in seine Welt gefunden hat, das er für seine Zwecke nutzen möchte, die Konsequenzen aber überblickt er nicht. Er wird zum Spielball dubioser Figuren, deren Absichten im Dunkel liegen.
Mit "Alles ist gut" spinnt Helmut Krausser ein Grundmotiv seines Erfolgsromans "Melodien" weiter - zu einem ebenso faszinierenden wie überraschenden Ende. (Berlin Verlag)
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