Anton Neumayr: "Krankheiten großer Diktatoren"
Diktatoren im Spiegel der Medizin
Wie psychische und organische Defekte von Napoleon, Hitler und Stalin die Geschicke Europas bestimmten
Sie schickten Hunderttausende Landsleute zum "Ehrentod" aufs Feld, vorgeblich, um ihr Land zu schützen, und kannten weder mit dem militärischen Feind noch mit Gegnern im Inland Gnade oder gar eine konstruktive Auseinandersetzung, sodass sich ihr jeweiliger Blutzoll auf Millionen Menschenleben beläuft: Napoleon, Hitler und Stalin drückten der neueren europäischen Geschichte einen auch heute noch weithin sichtbaren Stempel aus Terror und Gewalt auf.
Wie kam es, dass solche "Dämonen", wie sie gern bezeichnet werden, an die Macht gelangen, sich dort halten und ihre Nationen in mehr oder weniger blinde Gefolgschaft zwingen konnten? Woher rührte überhaupt ihr Bedürfnis nach dieser absoluten Macht? Welchen Einfluss hatten ihre zum Teil schwerwiegenden
Krankheiten auf politische und militärische Entscheidungen?
Prof. Neumayer untersucht diese Fragen aus medizinischer Sicht, wobei er
sinnvollerweise der Psychologie keinen geringeren Stellenwert einräumt als den
organischen Krankheiten.
Die drei Diktatoren werden nacheinander besprochen in der Reihenfolge
Napoleon,
Hitler, Stalin. Den Hauptteil des Textes zum jeweiligen "Patienten" macht eine ausführliche Biografie aus, in die auch Kurzviten von Eltern und gegebenenfalls Großeltern (beispielsweise bei Hitler, dessen Stammbaum immer wieder für
Spekulationen gesorgt hat) sowie die Kindheit des Diktators, aber auch erste
Beschreibungen der psychosozialen Auffälligkeiten, Krankheitssymptome und deren Behandlung während des Lebenslaufs einfließen. Der Tod der Protagonisten wird ausführlich anhand der Quellenlage geschildert, anschließend fasst der Autor die Krankheitsgeschichte zusammen ("Patient Stalin"), erstellt ein
Psychogramm und erläutert Besonderheiten ausführlich, so die sadistischen
Neigungen, die gerade bei Hitler und Stalin unübersehbar sind, und die Paranoia, die im Lauf das Lebens bei allen drei Diktatoren einsetzte.
Da sich gerade bei Napoleon, der bei seinem Tod zum einen von feindlich
gesonnenem englischem Wachpersonal, zum anderen von bemerkenswert
unfähigen Ärzten umgeben war, nicht jedes eigentlich bedeutsame Detail seiner Krankheit eindeutig erschließen lässt, wägt der Autor sorgsam zwischen
verschiedenen Quellen und Interpretationsmöglichkeiten ab. Auch bezüglich der
psychologischen und psychoanalytischen Deutung von Kindheitserlebnissen und einschneidenden Ereignissen bemüht sich Neumayer um höchstmögliche
Objektivität, sodass die Herkunft manches später deutlich hervortretenden und sich fatal auswirkenden Charakterzugs sehr gut erkennbar wird. Wesentliche Züge der gestörten Persönlichkeitsstrukturen aller drei Diktatoren erschließen sich über die Kindheit, bei Napoleon etwa unter anderem über eine ausgesprochen dominante Mutter, bei Stalin und Hitler über einen gewalttätigen, extrem herrischen Vater und eine unterwürfige Mutter, die den Sohn heimlich stützte und vergötterte.
Enttäuschungen der an maßlosem Narzissmus leidenden jungen Männer - bei
Napoleon war es neben der Arroganz der französischen Adelsjugend an der
Militärakademie der missglückte Versuch zur "Befreiung Korsikas", bei Hitler das Unvermögen, an einer Kunstakademie aufgenommen zu werden, bei Stalin der Misserfolg am Seminar - führten zu einem tiefen Bedürfnis nach Rache an der Gesellschaft, die sie ausschloss. Manches militärische Desaster lässt sich zudem medizinisch erklären, so zum Beispiel Napoleons allzu langes Zögern bei der Schlacht von Waterloo, verbunden mit seinen unüberwindlichen Schlafattacken, die schon in früheren Schlachten zu massiven Problemen führten.
Da das Buch erstmals 1995 erschien, haben einige aktuelle Nachforschungen keinen Eingang gefunden. So entwirft Anna M. Sigmund anhand neu entdeckter Quellen
ein ganz anderes Bild
von Hitlers Wiener Zeit als jenes, das Neumayer zur medizinischen Interpretation heranzieht. Größtenteils sind die verwendeten Quellen jedoch aktuell und der auf ihnen beruhende Befund somit sehr gut begründet und, da Neumayer Fachausdrücke zwar einsetzt, aber meistens erläutert, auch für Laien gut verständlich. Dass der Autor gelegentlich unnötig abschweift und gerade Stalins Gräuel einzeln, detailliert und über das für einen medizinischen Befund notwendige Maß hinaus schildert, wobei auch häufig eine emotionale Färbung des Textes auftritt, mag allerdings den einen oder anderen Leser stören.
Das Buch kann natürlich die Abgründe in der Psyche der drei Diktatoren nicht restlos klären,
zumal sich viele Menschen mit einem ähnlichen familiären Hintergrund ganz "normal" entwickeln, aber es bietet gut verständliche, an der jeweiligen Biografie orientierte Erklärungen für die Entwicklung von Napoleon, Hitler und Stalin und die Faszination, die sie zu ihrer Zeit auf viele Menschen ausübten.
(Regina Károlyi; 03/2007)
Anton Neumayr: "Krankheiten großer Diktatoren.
Diktatoren im Spiegel der Medizin"
Marix-Verlag, 2007. 388 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Norman Ohler: "Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich"
Über Drogen im Dritten Reich ist bislang wenig bekannt. Norman Ohler geht den
Tätern von damals buchstäblich unter die Haut und schaut direkt in ihre
Blutbahnen hinein. Arisch rein ging es darin nicht zu, sondern chemisch deutsch
- und ziemlich toxisch. Wo die Ideologie für Fanatismus und "Endsieg" nicht mehr
ausreichte, wurde hemmungslos nachgeholfen, während man offiziell eine strikte
Politik der "Rauschgiftbekämpfung" betrieb. Als Deutschland 1940 Frankreich
überfiel, standen die
Soldaten der Wehrmacht unter 35 Millionen Dosierungen
Pervitin. Das Präparat - heute als Crystal Meth bekannt - war damals in jeder
Apotheke erhältlich, machte den Blitzkrieg erst möglich und wurde zur Volksdroge
im NS-Staat. Auch der vermeintliche Abstinenzler Hitler griff gerne zur
pharmakologischen Stimulanz: Als er im Winter 1944 seine letzte Offensive
befehligte, kannte er längst keine nüchternen Tage mehr. Schier pausenlos
erhielt er von seinem Leibarzt Theo Morell verschiedenste Dopingmittel, dubiose
Hormonpräparate und auch harte Drogen gespritzt. Nur so konnte der Diktator
seinen Wahn bis zum Schluss aufrechterhalten. Ohler hat bislang gesperrte
Materialien ausgewertet, mit Zeitzeugen, Militärhistorikern und Medizinern
gesprochen. Entstanden ist ein erschütterndes, faktengenaues Buch.
"Der totale Rausch" wurde von dem bedeutenden Historiker Hans Mommsen begleitet,
der das Nachwort beisteuert. Sein Fazit: "Dieses Buch ändert das Gesamtbild." (Kiepenheuer
& Witsch)
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