Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Peter M. Hejl, Siegfried J. Schmidt u. Paul Watzlawick:
"Einführung in den Konstruktivismus"


Die erfundene Wirklichkeit

Wird die Wirklichkeit von den Menschen erfunden und nicht gefunden? Wenn diese, von vielen Menschen als provokant empfundene, These zutrifft, ist Erkenntnis der absoluten Wahrheit unmöglich. Auf diesem Standpunkt stehen die Vertreter des Konstruktivismus.

Das Buch erschien erstmals 1985 und enthält Beiträge aus einer Vortragsreihe zum Thema Konstruktivismus. Namhafte Vertreter dieser Lehre (Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Paul Watzlawick, u.A.) stellen den Konstruktivismus aus der Sicht ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen vor. Der Leser bekommt dadurch einen Eindruck von den Grundlagen und von der Bedeutung dieser aus der wissenschaftlichen Forschung hervorgegangenen Denkrichtung.

Ernst von Glasersfeld führt in das Thema ein. Er beschreibt den Weg der Menschheit auf der Suche nach Wahrheit von der Antike bis zu Immanuel Kant. Wir können nicht hinter die Welt der Erscheinungen schauen, weil die Wahrnehmung nicht vom Beobachter getrennt werden kann. Während die traditionelle Philosophie davon ausgeht, dass es eine objektive Welt hinter der Welt der Erscheinungen gibt und wir uns dieser durch Erkenntnisse der Wissenschaft stetig annähern, klammert der Konstruktivismus die objektive Welt (als vom Beobachter getrennte Welt) einfach aus.

Heinz von Foerster führt diese Gedanken weiter fort. Seine Perspektive ist die der Kybernetik. Er beschäftigt sich mit selbstbezüglichen Systemen und erläutert an Hand zahlreicher Beispiele, dass wir den damit verbundenen Kreislauf nicht verlassen können. Seine These: Leben ist ein Eigenprozess.

Paul Watzlawick erläutert die Konstruktion von Wirklichkeiten an Hand von Diagnosen aus der Psychiatrie. "Fehlerhafte" Diagnosen führen zu "Wirklichkeiten", die sich später selbst bestätigen, da alle Maßnahmen im Sinne der Diagnose getroffen werden und alle Indizien im Sinne der Diagnose interpretiert werden. Von Watzlawick stammt der Satz: "Manchmal reicht es aus, die Bewertung des Problems zu verändern, statt das Problem zu verändern." Der Konstruktivismus wird damit instrumentalisiert, um positive Verhaltensänderungen zu erzielen. Wer Watzlawicks Schreibstil kennt, wird hier nicht enttäuscht. Sein Beitrag ist lesenswert und unterhaltsam.

Eine konstruktivistische Sozialtheorie (Beitrag von Peter M. Hejl), die den Standpunkt vertritt, dass wir unsere Realitäten selbst erzeugen und wir damit für unser Glück und Leid selbst verantwortlich sind (erinnert an Glaubenssätze des Buddhismus), wird nicht von jedem angenommen. Es liegt in der Natur des Menschen, sich für sein Glück und seinen Erfolg selbst verantwortlich zu sehen, aber für sein Leid Andere verantwortlich zu machen.

Aus den vielen Gedanken zum Thema konstruktivistischer Literaturwissenschaft (Beitrag von Siegfried J. Schmidt) möchte ich einen besonders herausgreifen: Eine Konzeption der Realität als Konstrukt bedingt eine veränderte Diskussion über Kunst und Wirklichkeit. Der Gegensatz zwischen Kunst und Wirklichkeit würde wegfallen, und Literatur und Kunst wären zwei von vielen (gleichberechtigten) Beschreibungsmöglichkeiten der Wirklichkeit. Der Unterschied liegt in der Methode. Hier bietet der Konstruktivismus die Chance, den Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden.

Der Literatur zum Konstruktivismus wurde ein eigenes Kapitel gewidmet. Es enthält einführende Erläuterungen zu ausgewählten Werken und ermöglicht damit eine gezielte Vertiefung der angesprochen Thesen.

Nachdem Newtons absoluter Raum durch Einsteins Relativitätstheorie zu Fall gebracht wurde, deutet sich durch den Konstruktivismus der Fall der absoluten Wirklichkeit an. Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Menschen sind zu erwarten.

Das Buch enthält zahlreiche Fremdwörter aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und ist damit für Leser geeignet, denen das Thema Erkenntnistheorien nahe steht. Das Alter der Vorträge sehe ich nicht als Nachteil an, weil mit Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster die Gründerväter dieser modernen Lehre zu Wort kommen.
Wer das Thema vertiefen will, kommt an den Werken von Varela und Maturana zum Thema "Funktionsweise lebender Systeme" nicht vorbei.

(Klemens Taplan)


Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Peter M. Hejl, Siegfried J. Schmidt u. Paul Watzlawick:
"Einführung in den Konstruktivismus"

Piper. 186 Seiten.
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