Horst Weber (Hrsg.): "Komponisten-Lexikon"

350 werkgeschichtliche Porträts


Ein Lexikon über Komponisten, in welchem die zeitgenössische Musik eine lobenswerterweise bedeutende Rolle spielt, herauszugeben, ist wahrlich nicht die leichteste denkbare Aufgabe. Angesichts der Masse der produzierten zeitgenössischen Musik, die Nachfrage jedenfalls weit übersteigend, erscheint eine die kompetente Auswahl voraussetzende umfassende Kenntnis schier unmöglich. Einziger Maßstab scheinen objektiv nachvollziehbare Kriterien wie Aufführungszahlen, bedeutende Aufträge für bedeutende Anlässe bzw. Interpreten oder ähnliches zu sein, die, wie man wiederum aus der Geschichte weiß, denkbar schlechte Indikatoren für künstlerische Qualität sind. Eine Reihe bedeutender Komponisten hätte es wohl niemals geschafft, in ihrer Blütezeit bzw. überhaupt zu Lebzeiten in ein zeitgenössisches Lexikon zu gelangen. Dazu kommen höchst erschwerend noch folgende zusätzliche Erwägungen:

1. Das "Musikschaffen" im immer noch maßgeblichen Sinne der maßgeblichen europäischen musikalischen Hochkultur, wonach also ein nicht anonymer Künstler Musik für andere Interpreten schreibt, findet heute erstmals in der Geschichte weltweit statt, was einen (auch hinsichtlich der äußerst reduzierten Betrachtung auf oben skizzierte "Erfolgskriterien") kaum erlangbaren globalen Überblick verlangt. Dass die Autoren deshalb in erster Linie auf Erfolg "im Westen", wo immer das auch ist, abstellen, erscheint verzeihlich. Dass Komponisten aus dem ehemaligen Ostblock erst mit Übersiedlung nach Westeuropa oder in die USA Bedeutung zu erlangen erscheinen, hätte trotzdem nicht auf Seite 231 anlässlich des Beitrages über die aus der UdSSR stammende Komponistin Sofija A. Gubajdulina mit dieser treuherzigen Offenheit ausgesprochen (d.h. niedergeschrieben) werden müssen: "1992 siedelte G. in die Bundesrepublik Deutschland über und gehört seit etwa dieser Zeit zu den führenden Komponistinnen der Welt."

2. Die Epoche der bürgerlichen Repertoire-Bildung, die etwa mit Mendelssohns Entdeckung der Matthäus-Passion begonnen hat, scheint ca. um 1945 bis 1950 zu Ende gegangen zu sein. Von da ab ist zu beobachten, dass neu entstandene Musik zwar gespielt wird, aber keinerlei nachhaltige Wirkung zu erzielen im Stande ist und stets von wiederum neu-entstandenen Werken verdrängt wird. Viele bedeutende Werke und Namen der 1970 und 80er Jahre erscheinen bereits vergessen zu sein, oft zugunsten fragwürdiger Modeerscheinungen. Dies wird auch in der Behandlung der österreichischen Musik ab ca. 1945 deutlich, von der die besten Namen unerwähnt blieben, und lässt sich auch anhand unserer ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten konstatieren.

3. Jede Wertung über Bedeutung kann natürlich keineswegs unabhängig von gesellschaftlich determinierten Prämissen sein. Dieses Werk ist in der BRD entstanden, folglich widerspiegelt es bundesdeutsche Befindlichkeiten, was um mit dem Auffallendsten zu beginnen, auch die in dieser Randmaterie jeglichen öffentlichen Interesses grotesk anmutende weitgehende Amerika-Hörigkeit erklärt. Dass dem alten, als Komponist maßlos überschätzten Wurschtel John Cage mit über sieben vollen Seiten mehr Raum gewidmet wird als Bach oder Beethoven, ist wohl nur in einem bundesdeutschen Musiklexikon möglich. Ein kommerzieller Schmarren wie die "West Side Story" muss in höchsten Tönen gelobt werden, Franz Lehar hingegen bleibt unerwähnt, was für sich betrachtet durchaus kein Fehler wäre, nur im Vergleich mit dem Kniefall vor der angloamerikanischen Welt eine gewisse Ungleichbehandlung darstellt, dies umso mehr, als auch etwa A. Sullivan umfangreiche Würdigung erfährt. Während mediokren US-Komponisten wie George Antheil, Elliott Carter oder Morton Feldman eigene Beiträge gewidmet sind, bleiben vorwiegend osteuropäische Meister wie Miloslav Kabelac, Eugen Suchon, Boris Ljatoshinsky u.a. mehr auf der Strecke.

Apropos Osteuropa: Der einzige negativ wertende Beitrag wird dem DDR-Parade-Komponisten Paul Dessau zuteil, und zwar ausgerechnet durch den Parade-Musikschriftsteller der DDR Mathias Hansen. Dabei erscheint mir Hansens vernichtender Schlussvorwurf eines "grundlegenden Mangels an kompositorischer Substanz" völlig ungerecht und rein politisch motiviert.

Diese eher allgemein gehaltenen Betrachtungen sollen weniger den konkreten Wert des vorliegenden Komponisten-Lexikons in Frage stellen als die generelle werkspezifische Sinnhaftigkeit an sich, zumindest was die Aufnahme aktueller Musik betrifft.
Von diesen grundsätzlichen gattungsimmanenten Problemen abgesehen handelt es sich um ein gelungenes Buch, das eine Fülle fundierter Artikel verschiedenster klug ausgewählter Autoren bietet. Erst für die Zeit nach 1850 treten Mängel, im wahrsten Sinne des Wortes auf (wie anders soll man das Fehlen von Alexander Glasunow oder anderer bedeutender Russen sonst bezeichnen). Aber das war wahrscheinlich anlässlich der Überfülle des musikalischen Geschaffenen und Schaffens der gesamten Menschheit unvermeidbar.

(Franz Lechner; 05/2004)


Horst Weber (Hrsg.): "Komponisten-Lexikon"
2., überarbeitete und erweiterte Auflage.
Metzler / Bärenreiter, 2003. 715 Seiten.
ISBN 3-476-01966-7.
ca. EUR 49,95. Buch bestellen

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